Warum ist in Deutschland die Nachmittagsschule seit Generationen verpönt? Andere Länder schaffen es doch auch – und wie

Das Studium haben die Franzosen gewonnen, da gab es gar keine Diskussionen. Sie schrieben die besseren Klausuren, trugen die cooleren Klamotten, und wenn es ums Feiern ging, haben sie auch nicht gerade geschwächelt. Wir Deutschen konnten es manchmal vor Neid kaum fassen.

Was unser Problem war? Wir waren noch nicht so weit, obwohl wir ja eigentlich die Älteren waren. Aus zehn Deutschen und zehn Franzosen bestand mein Studiengang, ein Jahr in Saarbrücken, ein Jahr in Metz, so lautete das Programm, das nach dem Grundstudium begann – anschließend schrieb man zwei Diplomarbeiten. Die Franzosen zuckten mit den Schultern. Stress waren sie gewohnt, ein hohes Lernpensum auch. Sie saßen in den Vorlesungen und Seminaren und wussten meist mehr als wir. Sie lernten auch schneller.

Sobald in Deutschland die Diskussion um das Abitur nach zwölf oder 13 Jahren beginnt, verstehe ich einen Großteil der Argumente nicht. Ich kann nicht beurteilen, inwiefern die Umsetzung des achtjährigen Gymnasiums gut oder schlecht gelaufen ist, von überhastet und aktionistisch ist ja oft die Rede. Ich weiß nur, dass es durchaus machbar ist, nachmittags zur Schule zu gehen, nach zwölf Jahren Abitur zu machen und mit Anfang 20 in die Berufswelt einzusteigen. So wie in Frankreich. Als ich dort in der 11. Klasse zur Schule ging, hatte ich jeden Tag bis 17 Uhr Unterricht, anschließend beaufsichtigtes Hausaufgabenmachen in absoluter Stille. Um 19 Uhr gab es Abendessen, danach eine Stunde Freizeit, dann erst ging es aufs Zimmer. Um 22 Uhr löschten die Lehrer das Licht. So ging das jeden Tag, nur am Mittwoch und am Sonnabend war der Nachmittag frei.

Kein französischer Schüler hat sich je darüber beklagt, ganz im Gegenteil, sie waren genau solche Tagträumer und Angeber, genau solche verschwärmten Teenie-Jungs und -Mädchen wie wir. Nur dass sie schon als Jugendliche deutlich mehr leisteten. Beim Schüleraustausch in der 10. Klasse gingen sie mit uns zum Unterricht und um spätestens halb zwei nach Hause zum Mittagessen. „Und was machen eure Mütter am Nachmittag?“, fragten sie uns, und wir zuckten mit den Schultern, denn arbeiten gingen sie meistens ja nicht. Am Nachmittag fuhren wir mit ihnen in die Stadt oder machten Fahrradtouren. „Ein schönes Leben habt ihr“, sagte mir damals meine Brieffreundin. Sie sah nicht neidisch aus, als sie das sagte. Eher ein wenig herablassend.

Als ich dann ein Jahr später selbst den französischen Schulalltag kennenlernte, war die Umstellung hart, ich habe lange für sie gebraucht. Aber sie hat mich für mein Leben geprägt. Dass uns die Franzosen später an der Uni überholten, wunderte mich nicht. Sie setzten ja einfach nur fort, was sie in zwölf Schuljahren am Vor- und Nachmittag gelernt hatten: Den Unterrichtsstoff ordentlich zu notieren, in vorgeschriebenen Heften, mit vorgeschriebenen Stiften in vorgeschriebenen Farben. Das konnte man als Deutsche befremdlich finden. Oder irgendwann einsehen, dass man versäumten Stoff auf diese Art viel leichter aufholen konnte.

Wenn ich heute die jungen Ingenieure sehe, die aus Toulouse nach Hamburg kommen, dann bestätigt das all mein Denken über das deutsche Bildungssystem. Die jungen Männer und Frauen sind Anfang 20, bestens ausgebildet, manchmal haben sie auch schon eine Familie gegründet. Mag sein, dass sie in ihrer Schullaufbahn weniger zu lachen hatten als wir. Dafür haben sie heute in den meisten Fällen eine bewundernswerte Allgemeinbildung, die von Geschichte und Geografie über die Naturwissenschaften bis hin zur Kultur reicht. Zwar hat Frankreich für all die Jugendlichen, die durchs elitäre System gerasselt sind, bis heute keine wirkliche Lösung parat. Für alle anderen ist es jedoch selbstverständlich, schon in jungen Jahren ein Leistungsträger der Gesellschaft zu sein.

Als wir selbst, zehn Franzosen und zehn Deutsche, mit Anfang 20 unsere Diplome in der Tasche hatten, sprachen die Deutschen über Doktorarbeiten und Aufbaustudiengänge. Die Franzosen hatten bereits ihre Bewerbungsmappen zusammen. Eine Kommilitonin aus Paris erwartete ihr erstes Kind. Was ihrem Arbeitgeber, den sie schnell gefunden hatte, egal war: Er wusste, dass sie einfach ein paar Monate später mit ihrem ersten Job beginnen würde.