Hierzulande steht der Neoliberalismus unter Generalverdacht – dabei hat er uns stark und wohlhabend gemacht

In diesem Land darf man bescheuerte Ansichten haben – und sie öffentlich kundtun. Man kann sich in Feuchtgebieten tummeln und im radikalen Sumpf fischen, man kann Varieté-Theater oder skurrile Positionen besetzen. Dieses Land ist ein tolerantes Land: Ein paar Ausnahmen aber gibt es, da macht man sich politisch verdächtig. Dann trifft die geballte Empörung sogar das Staatsoberhaupt. Und die, die sonst gern „Toleranz“ rufen, beginnen zu hyperventilieren.

Bundespräsident Gauck hat etwas Ungeheuerliches getan: Er hatte den Neoliberalismus verteidigt, der in dieser Republik im Beliebtheitsranking neben NSA und Neurodermitis rangiert. Vor wenigen Tagen sagte er zum 60-jährigen Bestehen des Walter-Eucken-Instituts in Freiburg: „Freiheit in der Gesellschaft und Freiheit in der Wirtschaft gehören zusammen. Wer eine freiheitliche Gesellschaft möchte, möge sich einsetzen für Markt und Wettbewerb und gegen zu viel Macht in den Händen weniger. “

Markt? Wettbewerb? Freiheit? Pfui, pfui, pfui. Verteidiger des Liberalismus oder des Kapitalismus müssen sich angesichts des absehbaren „Shit-storms“ im Internet nicht nur warm anziehen, sie sollten besser auch Ölzeug überstreifen.

„Das war eine sehr parteiliche Einmischung“, klagte Linken-Chef Walter Riexinger. „Das Grundgesetz schützt den Sozialstaat und nicht den Alle-gegen-alle-Kapitalismus.“ Grünen-Parteichefin Simone Peter belehrte den Präsidenten: „Der Neoliberalismus hat sich durch die Politik der schwarz-gelben Bundesregierung zu einem Synonym für soziale Ausgrenzung, ungerechte Löhne sowie wachsende Kinder- und Altersarmut entwickelt. Deshalb würde ich an diesen Begriff nicht anknüpfen wollen.“ Und SPD-Vize Ralf Stegner dozierte: „Der Begriff des Neoliberalismus ist zu Recht negativ besetzt, weil er dem Gemeinwohl großen Schaden zugefügt hat. Er war ein Triumphzug des Egoismus. Die Wirtschaft ist für die Menschen da, nicht umgekehrt.“ SPD-Chef Sigmar Gabriel hingegen lobte Gauck und machte damit deutlich, dass er sich als Wirtschaftsminister gerade neu erfindet.

Die Kritik ist so wohlfeil wie plump. Sie verwechselt den Begriff des Neoliberalismus mit der asozialen Weltsicht der Neocons, der Neokonservativen etwa bei den US-Republikanern, und tut Walter Eucken unrecht. Der neoliberale Ökonom war stets ein Freund der Freiheit und kämpfte für eine Wirtschaftsordnung, in der Spielregeln gelten: „Der Staat soll weder den Wirtschaftsprozess zu steuern versuchen noch die Wirtschaft sich selbst überlassen: Staatliche Planung der Formen – ja; staatliche Planung und Lenkung des Wirtschaftsprozesses – nein“, lautete sein Credo. Joachim Gauck findet es merkwürdig, dass der Begriff neoliberal heute so negativ besetzt sei. „In unseren öffentlichen Debatten wünsche ich mir schon mehr intellektuelle Redlichkeit, ein genaueres Hinschauen.“

Warum verteufeln wir das Wirtschaftssystem, das unseren materiellen Wohlstand und sozialen Standard sichert? Warum essen wir den Kuchen gern und verteilen ihn mit Wonne, aber hassen das Rezept? Unsere Inkonsequenz hat der Publizist Wolf Lotter in seinem neuen Buch mit dem etwas sperrigen Titel „Zivilkapitalismus“ (Pantheon, 14,99 Euro) prima demaskiert. Lotter schreibt: „Warum ist der Antikapitalismus eigentlich dort so stark, wo Menschen vom Geld anderer Leute leben, von Subventionen, die den Wettbewerb, die Gleichheit, die Gerechtigkeit und die Fairness außer Kraft setzen – und deren Volumen allein in Deutschland mehr als 280 Milliarden Euro pro Jahr beträgt – gut die Hälfte des Staatshaushaltes?“ Der Antikapitalismus sei reaktionär, ein „Neobiedermeier hat die moralische Lufthoheit in der Politik, in der Kunst und in den Medien“. Dabei seien die vermeintlich „kapitalistischen Unarten“ einfach menschliche Schwächen. „Der Kapitalismus“, so Lotter, „ist keine Liebesheirat, er ist eine Vernunftehe.“

Lotter plädiert für eine kapitalistische Aufklärung, einen Ausweg aus der Unmündigkeit – mehr Wissen über die Wirtschaft, aber auch mehr Wissen um die eigenen Fähigkeiten: „Der Kapitalismus ist nicht das kleinere Übel, und wir sind keine Opfer. Wir sind frei geborene, selbstbewusste Bürger, die in der Lage sind, ihre Angelegenheiten selbst zu regeln.“ Das wäre doch ein Anfang.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt