Es graute der Morgen, aber ihr graut es vor der Grammatik. Deutungen, Umdeutungen und die Verballhornung der deutschen Sprache.

Weil die Frau nach 40-jähriger, inzwischen ziemlich abgekühlter Ehe am Frühstückstisch etwas vermeintlich Gehobenes zu ihrem Mann sagen wollte, begann sie: „Als ich nach dem Aufstehen aus dem Fenster sah, graute der Morgen.“ Der Mann blickte nur kurz von seinem Sudoku auf und knurrte zurück: „Nein, als du aus dem Fenster sahst, graute dem Morgen!“

Hierbei handelt es sich natürlich um einen Witz, wie er täglich rechts unten auf der letzten Seite steht und von mehr Lesern beachtet wird, als diese Leser zugeben werden. Meine verstorbene Frau begann früher die Lektüre des Abendblatts immer hinten. Fatma hingegen hat die Pointe nicht verstanden. „Deutschland schön“, meinte sie, „aber Sprache schlimm!“

Zum Verständnis müsste sie zwischen grauen und grauen unterscheiden können. Wir haben es mit Homonymen zu tun, mit Wörtern, die äußerlich gleich sind, sich aber in Bedeutung und Grammatik unterscheiden. Zum einen hat das schwache Verb grauen den Sinn „dämmern, grau werden“: Als ich heute Morgen zur Arbeit fuhr, begann es schon zu grauen – oder etwas einfacher ausgedrückt: Es wurde langsam hell. Das andere, ebenfalls schwache Verb grauen in der Bedeutung „sich fürchten vor“ wird meistens mit dem Dativ verbunden: Mir graut vor der Prüfung. Dass auch der Akkusativ erlaubt ist, macht den Fall nicht leichter, sondern verdoppelt die Zahl der möglichen Fälle: Mich graut vor dieser Begegnung.

Der Morgen ist, wenn er graut oder ihm graut, als Wortart ein Substantiv, als Satzteil jedoch entweder ein Subjekt im Nominativ (Frage: wer?) bzw. ein Objekt im Dativ (wem?). Wenn es oder ihm aber heute Morgen graut, ist diese Fügung als Satzteil eine adverbiale Bestimmung der Zeit und heute als Wortart ein Adverb. Die Tageszeiten nach Adverbien werden seit der Rechtschreibreform als Substantive angesehen und großgeschrieben: vorgestern Nacht, gestern Abend, morgen Mittag, heute Nachmittag. Hängt an den Tageszeiten jedoch ein -s, wandelt sich die Wortart zurück zum Adverb – und Adverbien werden kleingeschrieben: nachts, abends, mittags, nachmittags, morgens.

Fatmas Augen wurden größer und größer. Man sah, ihr graute vor der deutschen Grammatik. „Ja, die ist wirklich unter aller Kanone!“, versuchte ich sie zu trösten. Fatmas Augen wurden noch größer: „Kanone? Schießen?“ Ich hatte unbedachterweise eine Umdeutung benutzt, denn „Kanone“ ist die umgangssprachliche, aber sinnwidrige Anpassung an ital. cannone zu lat. canna (Rohr), obwohl eigentlich das lat. Wort canon (Regel, Gesetz) gemeint war: sub omni canone (unter jeder Richtschnur). Manchmal sagen wir auch „unter aller Sau“.

Diese Sau hat jedoch nichts mit einem Bauernhof zu tun, sondern ist vom jiddischen seo (Maßstab) abgeleitet. Das Jiddische war die von den Juden in Osteuropa gesprochene Sprache, deren Wortschatz sich hauptsächlich aus mittelhochdeutschen, hebräisch-aramäischen und slawischen Elementen zusammensetzte. Über das Rotwelsche, die Geheimsprache gesellschaftlicher Randgruppen, drangen viele Ausdrücke in die deutsche Umgangssprache. Rot hieß der lügend und betrügend umherziehende Berufsbettler, und als welsch galten die romanischen Sprachen. Weil man sie nicht verstand, war eine welsche Redeweise eine unverständliche Redeweise. Daher stammt auch der Ausdruck Kauderwelsch (kaudern – hausieren). Die Verballhornung blaumachen (nicht arbeiten) gehört zu jidd. belo (ohne), Schmiere stehen zu jidd. schmiro (Wache), Mordskerl zu Romani morsch (Hengst, Mann), ohne Moos nichts los zu jidd. moess (Geld), im Eimer sein zu jidd. emo (Furcht) sowie flöten gehen zu jidd. plejta (Flucht). Wer Pleite machte, begab sich auf die Flucht vor seinen Gläubigern.

Der weit verbreitete Ausdruck Verballhornung entstand übrigens in Lübeck: Der Buchdrucker Johann Ballhorn (1528–1603) hatte dort 1586 eine Ausgabe des „Lübischen Rechts“ veröffentlicht, den Satz jedoch ohne vorherige Korrektur in den Druck gegeben. Sein Werk enthielt derart viele Fehler, Drehungen, Klitterungen und auf unfreiwillige Weise sogar neue Wörter, dass ihm die zweifelhafte Ehre zuteilwurde, das Verb verballhornen von seinem Namen abgeleitet zu sehen.