Europas Umgang mit Flüchtlingen beschämt. Deutschland muss sich stärker engagieren

Zu Weihnachten hat sich Italien von seiner barmherzigen Seite gezeigt und das Aufnahmezentrum in Lampedusa räumen lassen. Anlass war ein Amateurvideo, auf dem ein Aufseher einen nackten Flüchtling mit einem Wasserschlauch abspritzt. Die Bilder waren mächtiger als unzählige Worte, die vorher über die skandalösen Umstände in dem Zentrum verloren wurden. Dass die Zustände auf Sizilien oder dem Festland besser sind, ist nicht zu vermuten. Erst vor einer Woche haben sich Afrikaner in einem Aufnahmezentrum nahe Rom aus Protest den Mund zugenäht, andere sind in einen Hungerstreik getreten. Das Problem wurde also lediglich verlagert, im buchstäblichen Sinn.

Die Frage, wie mit diesen Menschen umzugehen ist, geht auch uns an, nicht erst seit einige von ihnen in Hamburg gelandet sind. Wer glaubt, wir Deutschen würden uns humanitär hervortun, dem seien folgende Zahlen vorgehalten: 20.000 syrische Flüchtlinge haben seit Ausbruch des Bürgerkriegs bei uns Zuflucht gefunden. Im Libanon sind es 1,2 Millionen, fast ein Drittel der Einwohnerzahl.

Bundespräsident Joachim Gauck hat uns in seiner Weihnachtsansprache die Gewissensfrage gestellt: „Tun wir wirklich schon alles, was wir tun könnten?“ Die Antwort ist nein. Europa unternimmt enorme Anstrengungen, wenn es darum geht, Flüchtlinge an der Flucht zu hindern. Für das Programm Eurosur, das verdächtige Bewegungen aufspüren helfen soll, hat die EU 250 Millionen Euro bereitgestellt. Dieselbe EU hat es Ende Oktober abgelehnt, Asylsuchende nach einer Quote auf die Mitgliedsländer zu verteilen. Stattdessen hält man am Dubliner Übereinkommen fest, wonach das Verfahren im Erstaufnahmeland stattzufinden hat. Spanien, Italien und Griechenland aber werden gerade selbst zu Auswanderungsländern, weil die Krise ihre Wirtschaft hat erlahmen lassen. Wie überfordert sie mit der Situation sind, ist in Lampedusa und anderswo zu besichtigen.

Es kann nicht darum gehen, all diese Flüchtlinge bei uns aufzunehmen. Das verlangt auch niemand. Wir sollten nur aufhören, Einwanderung vor allem als Bedrohung unseres Sozialsystems und unserer gesellschaftlichen Werte zu begreifen. Es waren Millionen Einwanderer, die dieses Land nach dem Krieg aufbauen halfen und die heute unsere Kultur bereichern. Wir werden Millionen weitere brauchen, solange es Politik und Wirtschaft nicht verstehen, Voraussetzungen zu schaffen, damit diese Gesellschaft genügend Nachkommen hervorbringt. In der Überalterung schlummert eine weitaus größere Gefahr für unser Sozialsystem, als es die Einwanderung darstellt.

Die meisten dieser Einwanderer sind jung, belastbar, bereit, sich ein neues Leben aufzubauen. Ihr Ziel ist in aller Regel nicht, soziale Leistungen abzugreifen oder gar eine kriminelle Karriere einzuschlagen. Diese Menschen setzen für die Flucht ihr Leben aufs Spiel, weil sie alles andere schon verloren haben. Wir aber haben, wenn wir sie einfach zurückschicken, nichts zu gewinnen außer etwas Zeit. Denn diese Menschen werden wiederkommen. Nach Lampedusa, Hamburg, überall dorthin, wo sie ein besseres Leben vermuten.

Gleichzeitig sollte es in unserem Interesse liegen, die Flüchtlingsströme einzudämmen. Wenn Staaten ganze Generationen leistungsfähiger, teils gut qualifizierter Einwohner verlieren, dann steht auch ihre Zukunft auf dem Spiel. Krisenprävention und Demokratieförderung dürften mittelfristig allemal effektiver sein als jede militärische Abschottung, damit Migranten erst gar nicht zu solchen werden.

Die Politik scheint in der Flüchtlingsfrage selbst an einer Grenze angekommen zu sein. Wir sollten niemandem trauen, der uns für all das eine einfache Lösung verspricht. Aber wir sollten auch nicht glauben, man könne einfach so weitermachen wie bisher.

Der Autor besuchte vorvergangene Woche das Lager in Lampedusa