Die ruhige Hand der Bundeskanzlerin täuscht über Härte und Machtwillen hinweg.

Die Mechanik der Machtausübung gilt noch immer als traditionelles Ressort des Mannes; vor allem in ihrer rigorosen, auf maskulinen Überlegenheitsritualen basierenden Variante. Frauen, so heißt es, pflegten Macht auf raffiniertere, subtilere Weise auszuüben. Allerdings galt das für die starken Frauengestalten der politischen Geschichte nicht immer; ob Maria Theresia, Katharina die Große, Indira Gandhi oder gar Margaret Thatcher – meist haben sich machtvolle Frauen als ebenso durchsetzungsfähig und rücksichtslos erwiesen wie ihre männlichen Zeitgenossen – abgesehen davon, dass sämtliche erwähnte Damen blutige Kriege führten.

Der Aufstieg der ersten deutschen Kanzlerin; die nun in ihre dritte Wahlperiode startet, war anfänglich dem Phänomen Wiedervereinigung geschuldet. Ihr einstiger Förderer, der schwarze Riese Helmut Kohl, lange selber ein Virtuose der Machttaktik, erkannte das Potenzial Merkels, vor allem aber der attraktiven Kombination Frau/Osten und gab ihr ein unwichtiges Restministerium. Weder der Pfälzer noch andere Granden der CDU konnten ahnen, dass „Kohls Mädchen“ unter einer trügerisch sanften Fassade eine geballte Ladung an Machtinstinkt; Härte und Beharrlichkeit verbarg. Jene, die sich Merkel in den Weg zu stellen versuchten, dümpelten bald in ihrem Fahrwasser. Und dies, obwohl sie zumeist Netzwerker waren, während Merkel lange keine eigene Hausmacht hatte. Während Kohls geradezu offensiv zelebrierte Bodenständigkeit von Strickjacke bis Saumagen nicht selten den Mief des Spießertums verbreitete, gelingt es Merkel, eine unglamouröse gesamtdeutsche Natürlichkeit vorzuleben. Merkels Etikett „Mutti“ besitzt zwar keine glitzernde Strahlkraft, kündet aber irgendwie von mütterlicher Zuwendung und Verantwortung nach dem Motto: Bleibt ganz ruhig, ich mach das schon. Die Deutschen, so scheint es, fühlen sich bei „Mutti“ wohl und schätzen Berechenbarkeit höher als Experimentierfreudigkeit. SPD-Chef Sigmar Gabriel, der sich derzeit in praller Selbstzufriedenheit über das Erreichte sonnt, sollte nicht den Fehler begehen, Merkel zu unterschätzen. Viele Kritiker der Kanzlerin glauben nun, die Öffnung nach links auf manchen Feldern sei Gabriels Sieg und Merkels Niederlage. Doch da gäbe es noch eine andere Lesart. Angela Merkel hat es in den vergangenen Jahren geschafft, die CDU als eine Partei des langsam verharzenden Konservatismus thematisch aufzubrechen und auf wählbaren Zeitgeist zu trimmen. Indem sie die CDU auf diese Weise stärkte, schwächte sie gleichzeitig die SPD. Gewiss, manchmal scheint Merkel fast zu spät und in schildkrötenhaftem Tempo auf politische Herausforderungen zu reagieren. Doch bislang hat sie damit größere Katastrophen vermieden; im Übrigen kommt diese bedächtige Handlungsweise den Deutschen entgegen, die Revolutionen jeder Art eher abgeneigt sind. Es ist bemerkenswert, dass sich die SPD aus Leibeskräften von jener Politik Gerhard Schröders distanziert, die es Deutschland erst ermöglicht hat, nahezu ungeschoren durch die Weltfinanzkrise zu manövrieren und die von Merkel fortgesetzt wurde. Die Risikopotenziale in der Politik der neuen Großen Koalition kann Merkel im Falle des Scheiterns mühelos bei der SPD verorten.

Die Physikerin Angela Merkel hat einen unemotionalen Politik-Pragmatismus entwickelt; sie behält im Angebot der CDU, was funktioniert, annektiert kurzerhand bei anderen, was ebenfalls funktionieren könnte und ändert notfalls nach Bedarf ihre Meinung. Die Seele der „mächtigsten Frau der Welt“ bleibt bei alldem eine „Blackbox“ – ihr Inneres ist hermetisch versiegelt und von außen nicht einsehbar. Es ist die Konsequenz aus einer Jugend in einer von Spitzeln wimmelnden Diktatur und einer Karriere im Haifischbecken der Politik, wo man niemandem vertrauen kann.