Die Lampedusa-Flüchtlinge fordern einen Teil des Reichtums, und sie tun es zu Recht. Von der Lebenslüge eines gerechten Europa

Es gibt wohl kaum ein Bild, das so klar in unseren Köpfen hinterlegt ist wie das Bild eines Flüchtlings. Es speist sich aus religiösen Motiven, Schwarz-Weiß-Aufnahmen der vergangenen Weltkriege, aus überlieferten Familiengeschichten und aktuellen Reportagen. Und wenn man das alles zusammenfügt, kommt meist folgende Rollenbeschreibung dabei heraus: Flüchtlinge sind vom Leben gezeichnet, schwach und anspruchslos, sie sind mit dem wenigen zufrieden, das man ihnen lässt. Sie sind in Lumpen gekleidet und froh, dass sie diese immerhin haben; sie besitzen eine tiefe Dankbarkeit den Menschen gegenüber, die bereit sind, ihr Lebensglück und ihren Reichtum mit ihnen zu teilen – im tiefsten Inneren wissen sie ja, dass sie nirgendwo wirklich erwünscht sind.

So weit das Bild der Flüchtlinge in unserem Kopf, auch ich habe es lange mit mir herumgetragen. Und dann kam „Lampedusa Hamburg“ – eine Gruppe junger Schwarzafrikaner, deren Mitglieder gut gekleidet sind, Smartphones haben, mehrere Sprachen sprechen. Sie sind gebildet und selbstbewusst. Gerade einmal zwei Generationen ist es her, dass Menschen in Europa aus ihrer Heimat vertrieben wurden, und wie sehr muss man derzeit den Lampedusa-Flüchtlingen danken, dass sie uns die Bilder in unseren Köpfen aktualisieren, dass sie uns eine Lehrstunde erteilen in Sachen Vorurteile und Klischees. Dafür sind sie beachtliche Wege gegangen. Und nun ziehen sie Sonnabend für Sonnabend durch die Hamburger Innenstadt, um uns und unseren Lebenslügen ein paar unbequeme Spiegel vorzuhalten.

Da wäre beispielsweise die Lebenslüge eines guten, eines christlichen, eines gerechten Ortes, an dem wir leben. Tatsache ist, dass sich Europa seit dem 1. Dezember ein neues Grenzüberwachungssystem leistet, eines zur Überwachung „problematischer Menschenströme“, wie es im Fachjargon heißt. Die Kosten werden sich von 2014 bis 2020 auf mindestens 250 Millionen Euro belaufen – deutlicher kann man seinen Willen zur Abschottung nicht dokumentieren. Europa möchte seinen Reichtum nicht teilen, und es ist diesem Kontinent auch egal, ob die Menschen, die in ihrer Heimat um ihr Leben fürchten, auf ihrer Flucht verrückt werden oder sterben. Es ist das zynischste System, das man sich denken kann: Flüchtlinge sollen Europa möglichst fernbleiben, zur Not sollen sie im Mittelmeer ersaufen. Ein Grenzüberwachungssystem, das zunächst dafür ausgelegt ist, die Grenzen der Mitgliedstaaten abzuriegeln und erst in einem zweiten Schritt Leben rettet, lässt meines Erachtens keinen anderen Schluss zu.

Sobald die Flüchtlinge in Europa angekommen sind, gibt es ein Asylsystem, das sich mit ihnen befasst, das ihnen alle möglichen Rechte einräumt. Wie kann man diese beiden Realitäten als vernünftig denkender Mensch überein bekommen? Wie kann man bereit sein, Flüchtlinge aufzunehmen in dem Wissen, dass die Hälfte ihr Ziel womöglich gar nicht erreicht?

Die jungen Männer, die vor nun bald einem Jahr lebend in Lampedusa ankamen und anschließend nach Hamburg reisten, wissen um den Zynismus eines Systems, das sie bis in diese Stadt gebracht hat, im Übrigen eine der reichsten Städte Europas. Und sie stehen dagegen auf, sie, die vermeintlich Kraftlosen, Besitzlosen.

In der „Zeit“ gab es neulich ein Gespräch in einer bayerischen Gemeinde, in der seit Kurzem Flüchtlinge leben. Der Pfarrer war anwesend, zwei Flüchtlinge, der Gemeinderat, der Landrat, und es war nur ein kleiner Moment in einem langen Interview, und trotzdem war er entlarvend: Auf die Frage, ob die Flüchtlinge genug Geld im Monat zur Verfügung hätten, um anständig leben zu können, sagt der Landrat: „Meine Familie ist nach dem Zweiten Weltkrieg von Deutschland nach Deutschland vertrieben worden. Meinen Eltern wäre nie eingefallen, nach ein paar Wochen hier zu reklamieren: ,Neue Kleidung!‘ Die waren froh, dass sie einen Sack Stroh bekommen haben! Diese Anspruchshaltung...“

Ein Sack Stroh, das mag vor 60 Jahren gereicht haben. Heute reicht das niemandem mehr. Die Armen fordern einen Teil des westlichen Reichtums, und sie tun es zu Recht. Europa hat sich auf Kosten von Afrika bereichert und bereichert sich noch. So einfach ist das.