Der Konflikt in der Ukraine wird von einem geostrategischen Machtkampf überschattet

Der andauernde Machtkampf in der Ukraine ist natürlich zunächst einmal ein Ringen zwischen einem autoritär herrschenden Präsidenten und einer klaren Mehrheit des Volkes, das sich nach mehr Freiheit, nach mehr Nähe zu Europa, nach Demokratisierung und ganz einfach nach Würde sehnt. Noch bis 2015 währt die reguläre Amtszeit von Präsident Viktor Janukowitsch – es sei denn, die politische Eskalation führt am Ende zu einem vorzeitigen Ende der bedrängten Regierung. Janukowitsch hat viel zu verlieren. Die Allianz mit Russlands Präsidenten Wladimir Putin ist die stärkste Garantie dafür, dass er nicht nur vorläufig seine Macht, sondern auch sein riesiges Familienvermögen behalten kann. Allein sein Sohn Oleksandr soll innerhalb von kurzer Zeit mehr als 500 Millionen Dollar zusammengerafft haben.

Ähnlich wie in Russland hat sich in der Ukraine eine mächtige Finanzelite aus Oligarchen etabliert – wie den auf 16 Milliarden Dollar geschätzten Rinat Achmetow, der Janukowitsch lange massiv unterstützt hat. Doch scheint es unter ihnen nun gewisse Absetzbewegungen vom Präsidenten zu geben.

Rund 18 Prozent der Ukrainer sind ethnische Russen und Weißrussen; und der Schatten, den Moskau über das Nachbarland wirft, ist gewaltig. Der Konflikt in der Ukraine ist auf der strategischen Ebene ein Kampf zwischen dem wiedererstarkten Russland und dem Westen. Es ist ein politisches Déjà-vu-Erlebnis bezüglich des Kalten Krieges. Für Russland hat die Ukraine eine kaum zu überschätzende Bedeutung. Nicht nur weil die Region um Kiew mit dem mittelalterlichen Großreich Kiewer Rus Urheimat der Slawen und Keimzelle der russischen Reiche war. Insofern gibt es Parallelen zum inzwischen unabhängigen Kosovo, das die Serben als ihre historische Urheimat betrachten und partout nicht aufgeben wollen.

Die Ukraine spielt auch eine zentrale Rolle in den Plänen Putins für eine Eurasische Union, die von 2015 an ein antiwestliches Gegenstück zur Europäischen Union werden soll. Ohne Kiew wäre diese Organisation, der Russland, Weißrussland und Kasachstan sowie später Tadschikistan und Kirgisien beitreten sollen, viel weniger wert. Eine enge Kooperation Kiews mit der EU, später gar ein Beitritt mit der Übernahme ihrer politischen Werte und Normen wäre eine erhebliche Schwächung des russischen Einflusses. Welcher Geist die Eurasische Union, deren Mitglieder zumeist von Autokraten regiert werden, einmal unter russischer Hegemonie erfüllen dürfte, lässt der erpresserische Druck erahnen, den der Kreml auf die Ukraine ausübt, sich dem Werben Brüssels zu widersetzen. Hier soll offenbar eine Art Sowjetunion 2.0 entstehen.

Die aggressive Politik Wladimir Putins hat allerdings auch mit sehr zweifelhaftem Gebaren des Westens nach dem Ende des Kalten Krieges zu tun, das sich nun rächt. Um Moskaus Zustimmung zur deutschen Wiedervereinigung zu erreichen, hatte der damalige US-Außenminister James Baker Kremlchef Michail Gorbatschow fest zugesagt, die Nato werde sich „keinen Zentimeter ostwärts verschieben“. Wenig später wischte US-Präsident George Bush senior diese Zusage vom Tisch: „Zur Hölle damit! Wir haben gewonnen – sie nicht.“ Die Nato wuchs von 15 auf 28 Mitglieder nach Osten und nahm sogar die Baltenstaaten auf, was Russland als „Überschreiten der Roten Linie“ bezeichnet hatte. Die USA hatten die Schwäche des ehemaligen Gegners zu einer geostrategischen Offensive in „Russlands Hinterhof“ genutzt und Moskau dabei betrogen. Das ist ein Hauptgrund, warum Putin dem Westen misstraut und die Ukraine unbedingt in seinem Machtbereich halten will – als letzten Puffer. Die Zukunft der Ukraine dürfte dennoch in einem freien Europa liegen, nicht in einer erstickenden, pseudosowjetischen Umarmung.