Früher war der „Tatort“ Unterhaltung, heute ist er eine ernste Sache. Dabei wollen Zuschauer nur den Fall, nicht die Welt erklärt haben

Früher mag der Mörder immer der Gärtner gewesen sein – heute ist er Besserverdiener. Zumindest drängt sich der Eindruck auf, wenn man sich sonntags zwischen 20.15 und 21.45 Uhr durch den Tatort sozialisieren lässt. Da wird weniger die offizielle Kriminalstatistik abgebildet als vielmehr einem skurrilen Weltbild gefrönt: Unternehmer sind per se böse, besonders wenn sie an die Börse streben oder gar notiert sind. Erfolgreiche Familienväter führen eigentlich immer ein abgründiges Doppelleben. Im Osten stammt der Täter meist aus dem Westen, der Schauspieler mit Migrationshintergrund ist entweder zu Unrecht unter Verdacht – oder gleich der Kommissar. Wer in einer üppigen Villa wohnt oder gar als Makler tätig ist, könnte getrost schon um 20.25 Uhr als Verdächtiger festgenommen werden. Noch kaputter als die Opfer und Tatverdächtigen sind nur die Ermittler: Von den rund 30 aktuellen „Tatort“-Kommissaren lebte nur noch der Stuttgarter Bootz so wie Millionen Durchschnittsdeutsche – mit Frau und zwei Kindern im Reihenhaus. Nun ist auch er geschieden. Die anderen Ermittler haben schwerste Schicksalsschläge verkraften müssen, Partner oder Kind verloren – oder auch beides.

Trotzdem lieben wir den „Tatort“ und sammeln uns zu Abermillionen vor dem Fernseher: Der quotenschwächste „Tatort“, der verschrobene wie vielschichtige Wiesbadener Ermittler Murot (Ulrich Tukur), kam zuvor auf gute sieben Millionen Zuschauer, der einfach gestrickte Kommissar Tschiller (Til Schweiger), nun ja, fesselte 12,6 Millionen Zuschauer vor dem Fernseher. Der „Tatort“ wirkt wie ein Lagerfeuer, an dem sich die Nation trifft, gruselt und unterhält – und um 21.45 Uhr ist der Spaß nicht vorbei. Verwandelt ein ehrgeiziger Regisseur den „Tatort“ in ein schwer verdauliches Kunstwerk, schwillt die Empörung bis zur montäglichen Kaffeepause an; deutet sich hingegen ein großer Krimi an, fiebert die Internetgemeinde Tage vorher dem Film wie der Bescherung entgegen.

Das Erfolgsrezept des „Tatorts“ ist so einfach wie effizient: Ein aktuelles Aufregerthema oder krasses Familiendrama vom Boulevard wird in eine Kriminalgeschichte gegossen und vor der Tapete einer deutschen Stadt zwischen Kiel und Konstanz nacherzählt. Wahlweise auch in Wien oder Luzern. Kindesmissbrauch, Zwangsprostitution, Alkoholismus, Anlagebetrug, Menschenhandel oder Terrorismus – es gibt nichts, was nicht in 90 Minuten zum „Tatort“ taugt und selbst in eine Kleinstadt wie Bremen passt. Der ARD-Krimi ist ein Spiegel des Zeitgeistes. Selbst ARD-Koordinator Gebhard Henke klagte kürzlich im Gespräch mit „Spiegel Online“, als „Tatort“-Verantwortlicher treibe man „quasi die ganze Zeit im Säurebad der politischen Korrektheit“.

Längst ist der Krimi Anschauungsobjekt der Wissenschaft. Inzwischen dürfte es in der Republik mehr Doktoren geben, die mithilfe einer „Tatort“-Analyse promoviert wurden, als gute Drehbuchschreiber. Ihre Abhandlungen füllen Bibliotheken: Das Buch „Schauplatz Tatort: Die Architektur, der Film und der Tod“ untersucht etwa die Frage, warum die Täter meist in modernistischen Villen wohnen, die Guten hingegen in wild zusammengestückelten, aber sympathisch wirkenden Vorstadthäuschen. Die Analyse „Schuld, Sühne, Humor: Der ,Tatort‘ als Spiegel des Religiösen“ erklärt, dass Kommissare und Kirchenvertreter mit ähnlichen Problemen zu kämpfen haben: „Sie setzen sich für eine bessere Welt ein, können aber nicht sicher sein, dass sich durch ihre Arbeit das moralisch Richtige immer durchsetzt.“

Es gibt nichts, was der „Tatort“ nicht kann: Das Buch mit dem halb kriminellen Titel „Tatort, Fußball und andere Gendereien – Materialien zur Einübung des Genderblicks“ gibt mittels der Krimifolgen „Aufschluss über Geschlechtervorurteile und -sehnsüchte bei Klient/-innen sowie Lernenden, und sie sind gleichzeitig anschauliches Material für die Behandlung von Genderfragen auf allen Bildungsstufen“. Wahnsinn! Die Autorin des Werks „Das Thema Einwanderung im beliebtesten deutschen TV-Krimi“ kommt zur Erkenntnis, der ,Tatort‘ könne „den Integrationsprozess insgesamt befördern“. Wenn in den USA schon ein mittelmäßiger Westernstar Präsident werden kann, welche Chancen eröffnen sich da Starermittlern wie Ballauf und Schenk oder Boerne und Thiel?

Fast muss man sich schämen, einen „Tatort“ als einfachen Wochenendausklang mit einer Tüte Chips auf dem Sofa als das zu genießen, was er eigentlich ist: mehr oder minder gute Unterhaltung ohne politisch-gesellschaftlichen Überbau. Wir wollen nicht die Welt, nur den Fall erklärt haben.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt