Mit ihrem Bündnisvertrag beschenken Union und SPD ihre Klientel. Das ist weder nachhaltig noch gerecht

So viel Lob war selten: Der Koalitionsvertrag war noch nicht einmal unterschrieben, da wähnten sich schon alle als Sieger. Das 185-Seiten-Dokument, frohlockten CDU, CSU und SPD unisono, trage die eigene Handschrift. Bei so viel Selbstzufriedenheit sei an Henry Kissinger erinnert, der einst feststellte: „Ein Kompromiss ist nur dann gerecht, brauchbar und dauerhaft, wenn beide Parteien damit gleich unzufrieden sind.“ Tatsächlich besteht Anlass zur Sorge, dass dieser Koalitionsvertrag der Selbstzufriedenheit weder gerecht noch brauchbar noch dauerhaft für Deutschland ist.

Der erste Test in Sachen Dauer steht ohnehin noch aus, weil die SPD-Mitglieder dem Koalitionsvertrag zustimmen müssen. Ein Ergebnis ist schwer vorhersagbar. Auch wenn die Gesetze der Mediengesellschaft gebieten, sich nun auf die Kritiker zu stürzen und sie ausgiebig zu Wort kommen zu lassen, sollte man sich in den 475.000 Mitgliedern nicht täuschen. Oberflächlich entscheiden sie über Regierung oder Opposition, tatsächlich wählen sie zwischen der Übernahme von Verantwortung oder dem politischen Selbstmord der SPD.

Eine Partei, die Deutschland seit 150 Jahren prägt und in ihrer einzigen bundesweiten Urabstimmung 1993 Rudolf Scharping statt Gerhard Schröder oder Heidi Wieczorek-Zeul zum Parteichef kürte, sollte man nicht mit einer Harakiri-Truppe verwechseln. Zumal jeder programmfeste Sozialdemokrat kaum Grund zur Klage hat: Der Koalitionsvertrag ist ein klares Unentschieden zwischen Union und SPD. Dieses Unentschieden ist angesichts des Ergebnisses der Bundestagswahl ein Erfolg, wie es ein Unentschieden des HSV beim FC Bayern wäre. Nur zur Erinnerung: Die Union kam am 22. September auf 41,4 Prozent, die SPD auf 25,7 Prozent.

Das Unentschieden muss angesichts der Ausgangslage indes nicht überraschen: Die CDU hat sich inhaltlich und programmatisch längst so entkernt, dass sie vor allem von der Person der Parteivorsitzenden und Kanzlerin zusammengehalten wird. Angela Merkel hat schon zu Zeiten der schwarz-gelben Regierung sozialdemokratisch agiert, was damals nur von den Liberalen gebremst wurde. In jener Koalition zwischen 2009 und 2013 hat sie die Wehrpflicht ausgesetzt, die Energiewende mit Atomausstieg beschlossen und das christdemokratische Familienbild generalüberholt. Da kann es wenig überraschen, wenn nun die doppelte Staatsbürgerschaft zum Normalfall wird sowie die Homo-Ehe oder der Mindestlohn kommen. Was für die marginalisierte Parteirechte Aufregerthemen sein mögen, für Merkel sind es strategische Weichenstellungen, um die Union mehrheitsfähig zu machen.

Diese Beschlüsse der schwarz-roten Koalition mögen in einigen Ortsverbänden, Leitartikeln oder Wahlnachlesen Aufsehen erregen; man kann auch einzelne Änderungen in ihrer Sinnhaftigkeit anzweifeln. Letztlich aber sind es Reformen, die für Große Koalitionen typisch sind: Es sind behutsame Änderungen des Gesellschaftsbildes, die eine Regierung nachvollzieht und dabei wegen ihrer Kompromisshaftigkeit auch die meisten Kritiker miteinzubeziehen mag. Das alles mag man, Kissinger eingedenk, noch brauchbar finden.

Und doch ist dieser Koalitionsvertrag unter dem Strich eine große Enttäuschung, eine Aneinanderreihung von Wohltaten mit einem grotesken Mangel an Reform- und Gestaltungswillen. Alles das, was den Erfolg der beiden historischen Großen Koalitionen ausgemacht hat – die Bereitschaft zu notwendigen Einschnitten und unbequemen Beschlüssen – fehlt in dieser Neuauflage. Vielleicht geht es dem Land derzeit zu gut, vor allem aber fehlt Angela Merkel, Horst Seehofer und Sigmar Gabriel politischer Mut. Schlimmer noch: Notwendige Reformen etwa mit der Agenda 2010 oder der Rente mit 67 werden zurückgedreht. Die Große Koalition benimmt sich wie ein Pleitier, der endlich aus den roten Zahlen herausgekommen ist und vor Freude darüber Banknoten auf der Straße verschenkt.

Die Mütterrente, ein inniger Wunsch der CDU, kommt genauso wie die abschlagsfreie Rente nach 45 Beitragsjahren. Die Demografie aber ändert sich nicht. Die Einigung beweist auf fatale Weise, dass die Großkoalitionäre inhaltliche Gräben mit Geldsäcken zuschütten und überbrücken – ohne Rücksicht auf die Finanzierung, die Generationengerechtigkeit oder die Nachhaltigkeit, also just die Ziele, die im Koalitionsvertrag wortklingelnd immer wieder zitiert, in der Umsetzung dann aber ignoriert werden. Es sind Beschlüsse für eine Schönwetterperiode, die derzeit herrscht, aber schnell zu Ende gehen kann. Vergessen ist die politische Weisheit, dass es für Geschenke kaum Dankbarkeit gibt, bei der Rücknahme von Geschenken aber geballter Widerstand droht. Die vergangene Bundestagswahl, so sagen Experten, dürfte die letzte gewesen sein, bei der die Zahl der Wähler unter 55 Jahren noch in der Mehrheit war. Die Große Koalition macht schon jetzt Politik für die Ü55-Generation.

Diesem Koalitionsvertrag mangelt es an Vision, am Mut zum großen Wurf, an Zu-Mutungen. Es ist ein Rundum-sorglos-Paket für die eigene Klientel; um Deutschland aber muss man sich seit gestern wieder Sorgen machen. Gerhard Schröder geht in die Geschichte als Kanzler der Tatkraft ein; Angela Merkel muss aufpassen, nicht Kanzlerin Zaghaft zu werden.