Tischrechner ersetzen in Hamburger Restaurants die Kellner. Hier wird die Rationalisierung ins Absurde getrieben

Es gibt einen schönen Satz des französischen Schriftstellers Victor Hugo, der einst sagte: „Nichts ist mächtiger als eine Idee, deren Zeit gekommen ist.“ Als ich kürzlich in einem hippen Restaurant in der HafenCity saß, fragte ich mich, ob dieser Satz eigentlich auch für Schnapsideen gilt.

Da fallen einem ja derzeit so einige ein: Warum etwa bekommen Eltern, deren Kind keine Kita besucht, künftig ein Betreuungsgeld? Wieso ist jede dritte installierte Solarzelle weltweit ausgerechnet auf Deutschlands Dächern verschraubt, ein Land, das nicht unbedingt von der Sonne verwöhnt wird? Und weshalb überdachen wir in Hamburg eigentlich eine ganze Autobahn, während anderenorts Pfeiler gammeln, der Asphalt platzt und die Brücken verrotten?

Hier aber soll es um den Verfall der guten Tischsitten gehen, um eine Restaurant-Kulturkritik. In besagtem Speiselokal nämlich hat die technische Revolution die Servicekräfte gefressen. In der Begeisterung für sogenannte Tablet-Rechner bekommt der überraschte Gast nicht mehr wie früher eine Karte vorgelegt, sondern ein iPad-ähnliches Gerät hingestellt. Dort kann er sich im wahrsten Sinne des Wortes durch das Menü klicken und seine Bestellung direkt in die Küche schicken. Rückfragen beim Personal? Ausgefallene Sonderwünsche? Eine Empfehlung? Alles nicht vorgesehen in dieser schönen neuen Gastro-Welt. Die Bedienung wird auf zwei Tätigkeiten reduziert: Tablet und Tablett tragen. Sie muss weder rechnen noch schreiben noch sich Dinge merken können. Der stolze Kellner wird zum Tellersteller, die Kellnerin zur Botin ohne Botschaft.

Die Rationalisierung erobert die Restaurants. In Hamburg sind schon mehrere dabei. Viele Kellner sind fortan überflüssig, sie werden durch einen Bildschirm ersetzt. Und keinen scheint es recht zu stören. Dabei dürften die langfristigen Folgen für das Einkommen der Studentenschaft dramatischer sein als alle Studiengebühren zusammen. Hier gehen vor allem Jobs für junge Leute verloren. Und was für welche. Man schlage nach bei Heine, der einst der „schönen Marianne“ gleich nach Rathaus und Börse als „besondere Merkwürdigkeit“ der Stadt Hamburg ein literarisches Denkmal setzte.

Die Gastronomin aus Eimsbüttel verdrehte sogar dem Herzog von Braunschweig den Kopf. Heine spottete: „Die schöne Marianne, ein außerordentlich schönes Frauenzimmer, woran der Zahn der Zeit schon seit zwanzig Jahren kaut – nebenbei gesagt, ‚der Zahn der Zeit‘ ist eine schlechte Metapher, denn sie ist so alt, dass sie gewiss keine Zähne mehr hat, nämlich die Zeit – die schöne Marianne hat vielmehr jetzt noch alle ihre Zähne und noch immer Haare darauf, nämlich auf den Zähnen.“

Auch iPads mögen schön sein, vor allem aber sind sie schön langweilig. Weder lässt sich über sie spotten noch vermögen sie zu be- oder zu verzaubern. Eine charmante Kellnerin mit einem freundlichen Lächeln beispielsweise hat stets noch jedem männlichen Gast Herz wie Portemonnaie geöffnet, der galante Ober der Dame aus der gleichnamigen Schicht ebenso. Man muss jetzt nicht gleich das ganz große sozialdemokratische Weltbild von der Verteilung von oben nach unten in dieser Kolumne aufmalen, aber es ist eine extrem sympathische Umverteilung – und obendrein eine, die auch den letzten Liberalen gefallen müsste: Denn sie gilt als streng leistungsbezogen.

Der Einbruch des Unpersönlichen in eine Welt, die vermeintlich servicegetrieben ist und von den Menschen lebt, darf als Schnapsidee gegeißelt werden. Auch wenn ich mich nicht an das Restaurant ketten und selbst gepinselte Parolen „Wehret den Anfängen“ verbreiten möchte, sei doch eines gesagt: So darf es nicht weitergehen.

Es ist schon schlimm genug, dass wir unsere Bücher nicht mehr vom Händler um die Ecke, sondern von einem Computer-Logarithmus empfehlen lassen, dass wir lieber mit unseren klugen Mobiltelefonen kommunizieren als mit unseren Mitmenschen. Aber Kneipen ohne Kellnerinnen, Restaurants ohne Ober, Speiselokale ohne Karte sind ein Restaurantkulturbruch. So viel Schnaps kann man gar nicht trinken, um in dieser Schnapsidee noch eine Idee zu erkennen.

Matthias Iken beleuchtet in der Kolumne „Hamburger KRITiken“ jeden Montag Hamburg und die Welt