In der Urzeit domestizierten wir den Wolf. Heute gehen wir häufig mit einem überforderten Fellsack Gassi. Was läuft da schief?

In der eiszeitlichen Höhle von Chauvet im französischen Ardèche-Tal hat man die Spuren eines Jungen entdeckt, der dort vor rund 28.000 Jahren mit einer selbst gemachten Brandfackel unterwegs war. Neben seinen sind auch die Spuren eines Wolfs oder Hundes zu erkennen. Die Höhlenforscher halten es für möglich, dass Hund und Junge zusammen gehörten. Schon vor 40.000 Jahren haben Menschen Wölfe domestiziert, wie Knochenfunde zeigen. Bei domestizierten Wölfen verändert sich das Fressverhalten und in nur zwei oder drei Generationen auch das Gebiss.

Ich muss immer an den Höhlenwanderer denken, wenn ich Martin Rütters Hundeschule auf Vox sehe. Da geht es im Grunde auch um die Erforschung von Zivilisationsmerkmalen, anders gesagt: Zivilisationsschäden. Nur ist der Hund heute kein domestizierter Wolf mehr, sondern ein häufig überzüchteter, überforderter Fellsack, der unfreiwillig in eine hundefeindliche Umwelt gebeamt worden ist. Jeder Hund muss angeleint herumlaufen, einen Chip unter der Haut tragen. Allein der Bußgeldkatalog der Hamburger Bezirksämter zeigt schon, in wie vielen Punkten sich ein Hundebesitzer strafbar machen kann: 37. Das Hamburger Hundegesetz will alles und jeden umfassend vor Hunden schützen. Da möchte man am liebsten mit dem Hund in eine Höhle zurückkehren.

Dabei ist das Verhältnis der Menschen zum Hund ein kleines Wunder: Aus einer Symbiose in rauer Urzeit ist – im positiven Fall – eine fast familiäre Beziehung geworden. Die Anpassungsleistung von Hunden übertrifft die aller anderen Tiere. Hunde steigen Treppen, leben in Wohnwagen, Kellern und unterm Dach, passen auf Kinder auf, führen Blinde, spüren nach Sprengstoff und Verschütteten. Ihr ganzes Fühlen ist auf ihre Halter ausgerichtet. Manchmal weiß der Hund schon vor dem Besitzer, was der will. Was Rütters Hundesendung zeigt, sind allerdings oft die Psychokisten des 21. Jahrhunderts: Familien mit kleinen Kindern, die sich viel zu große Hunde anschaffen und zu spät merken, dass der Alltag mit Kleinkindern keinen Raum für den Hund lässt; oder Menschen, die von ihrem Hund all das erwarten, was sie von anderen Menschen nicht bekommen; oder Leute, die Zutexten für Erziehung halten („Ich hab dir doch schon tausendmal gesagt, dass die Kekse...“). Manchen kann Rütter sicher helfen, ihren Hund besser zu verstehen und hausgemachte Fehler zu beheben. Bei anderen ahnt man schon, dass die Besitzer einen „Flüsterer“ nötiger hätten als ihr Hund. Darauf basiert der Witz dieser Sendung.

Rütter hat auf der allgemeinen Erziehungsferne deutscher Hundehalter inzwischen ein Imperium mit Hundecoaches und -zentren in ganz Deutschland aufgebaut, er moderiert sogar Quizsendungen und wird wahrscheinlich irgendwann „Wetten, dass...“ übernehmen. Aber es wäre ganz falsch, sein Unterhaltungsformat mit seriösen Hundeschulen zu verwechseln. Man kann einen Hund genauso wenig nach TV-Ratgebern erziehen wie ein Kind. Inzwischen aber berichten Trainer in Hundeschulen immer häufiger von Kunden, die Rütters’ „positive Verstärkung“ oder „Führungsrolle“ völlig falsch verstanden und ihre Hunde derart eingeschüchtert haben, dass die traumatisiert sind. Offenbar ist ein Effekt eingetreten, der für Menschen typisch ist: Es gibt jetzt einen Guru, den man blind kopiert und dem man praktisch das Nachdenken überlässt, was schiefgelaufen ist.

„Zähme mich“, sagt der Fuchs in Antoine St. Exuperys „Der kleine Prinz“. „Man kennt nur die Dinge, die man zähmt. Die Menschen haben keine Zeit mehr, irgend etwas kennenzulernen. Sie kaufen sich alles fertig in Geschäften.“ Jede „Zähmung“ ist ein Einzelfall, der Geduld und eigenes Lernen erfordert. Die gibt es nicht zu kaufen, nicht als Download im Internet, sondern nur, wenn man Zeit investiert. Zum Beispiel in Leinenführungskurse, jeden Sonntag im Stadtpark. Oder in ein Welpentraining mit einem echten, kundigen Berater.

Es geht ja nicht um die Vermeidung von Bußgeldern. Was St. Exupery meinte, ist das Entstehen einer Freundschaft, die lange halten soll.

Irene Jung schreibt an dieser Stelle jeden Mittwoch über Aufregendes und Abgründiges im Alltag