Videoclips von Osama Bin Laden lassen den Mythos schrumpfen.

Im Frühjahr 1961 beobachtete die jüdische Gelehrte Hannah Arendt, geboren in Hannover, zwangsemigriert in die USA, als Reporterin in Israel den Prozess gegen Adolf Eichmann, den Organisator des millionenfachen Mordes an den Juden während der NS-Zeit. Angesichts der unfassbaren Verbrechen hatte sie erwartet, mit einem diabolischen Monstrum konfrontiert zu werden - doch sie fand nur eine erbärmliche, kleinkarierte Gestalt, die eifrig jede Schuld leugnete. Unter diesem Eindruck prägte Arendt den nicht unumstrittenen Begriff von der "Banalität des Bösen".

Seitdem die US-Regierung einige der auf dem Anwesen des erschossenen Al-Qaida-Führers Osama Bin Laden gefundenen Videoclips veröffentlicht hat, ist dieser sperrige Begriff wieder aktuell. Fast ein Jahrzehnt lang, seit den Massenmorden vom 11. September 2001, hatte Amerika den "gefährlichsten Mann der Welt" gejagt, an dessen Händen das Blut Tausender Unschuldiger haftete. Auf Propagandavideos von al-Qaida wirkte der bärtige Asket Osama Bin Laden wie eine alttestamentarische Rachegestalt, mit kaltem Vernichtungswillen von einem Berg herabsteigend.

Die Bilder aus seinem Haus in Abbottabad zeigen etwas ganz anderes. Da sitzt ein fröstelnder Greis im weichen Sessel vor einem betagten Fernseher, in eine Decke gehüllt, ein Strickmützchen auf dem Kopf, und zappt sich mit einer Fernbedienung durch die eigenen Videoclips. Der Fürst der Finsternis, dessen Schatten sich über die Welt legte, schrumpft plötzlich zu einem geruhsam wippenden, eitlen Zausel in einer schäbigen Behausung. Es ist das Ende eines Mythos.

Weniger gefährlich war der spirituelle Kopf des Terrornetzes deswegen nicht. Doch es zeigt sich, dass Osama Bin Laden keineswegs eine dämonische, charismatische Figur von shakespearescher Wucht war, kein Macbeth oder Richard III. Geradezu verzweifelt versuchte der Nierenkranke, auf seinen späteren Videobotschaften den Eindruck dynamischer Führungskraft vorzugaukeln, indem er sich das bleiche Gesicht schminken und den eisgrauen Bart färben ließ.

Die von Washington sehr bewusst freigegebenen Bilder könnten sich für al-Qaida und ihre Rekrutierungskampagne am Ende noch verheerender auswirken als der physische Tod ihrer Symbolgestalt selber. Jeder vermag nun zu sehen, dass nichts Heroisches an diesem Mann war, der aus seinem Versteck heraus so vielen Menschen den Tod brachte. Am Ende fand sich auch hier nur die Banalität des Bösen.