Viele Politikfelder vernachlässigt

1./2. Juli: Und das soll so wichtig sein? Der Streit um die ,Ehe für alle‘ ist vor allem eine Inszenierung der Parteien und Politiker feiern sich mit Konfetti

Dieser Leitartikel greift auf, was mir seit Langem aufstößt: Europa am Abgrund, der Euro am abschmieren, Sparguthaben und Lebensversicherungen entwertet, Terroranschläge und religiöser Wahn, Krieg und Bedrohung durch neue geostrategische Herausforderungen, Cyberangriffe, Breitbandausbau Fehlanzeige, Infrastruktur marode. Das alles spielt keine Rolle, ist auch viel zu kompliziert, Hauptsache, Ehe für alle. In der Ökonomie sprechen wir von sogenannten „Opportunitätskosten“, wenn es darum geht, abzuschätzen, ob der Einsatz von Ressourcen im Verhältnis zu einer alternativen Verwendung mehr oder weniger sinnvoll ist. Medien und Politiker betreiben dieses Thema seit Jahren mit selbstverliebter Intensität. Ökonomisch gesprochen, haben sie dafür einen erheblichen Teil ihrer Ressourcen eingesetzt, und in Relation dazu andere Politikfelder vernachlässigt. Das genau sind die Opportunitätskosten dieser Debatte und die sind eindeutig viel zu hoch.

Andrei Herbers, Hamburg

Diktatur der Minderheiten

Wir leben in der Tat in einer leisen Diktatur der Minderheiten. Kleine Minderheiten zwingen eine große Mehrheiten ohne Not, ihre Probleme überproportional zu debattieren. Wer laut genug schreit, bekommt Gehör, auch wenn andere Themen, gerade im Wahlkampf, eine größere Rolle spielen müssten. Das Theater im Parlament um diese „Ehe für alle“ ist ein Armutszeugnis für die Parteien im Erheischen von öffentlicher Aufmerksamkeit für ein im Großen und Ganzen längst geregeltes Thema.

Herbert Nölting, Hamburg

Gleiches Recht für alle Bürger

Für den Autoren ist es nicht wichtig und eine Inszenierung der Parteien. Für mich ist es sehr wichtig: Ich (Jahrgang 1947) erhalte mit diesem Beschluss des Deutschen Bundestages nach 70 Jahren gelebtem Leben erstmals vom Deutschen Parlament dieselben Bürgerrechte zuerkannt, die der Autor schon seit seiner Geburt in Anspruch nimmt. Alle bisherigen Verbesserungen hinsichtlich einer rechtlichen Gleichstellung von schwulen und lesbischen Bürgern wurden über viele Jahre hin erkämpft, von obersten Gerichten schließlich zuerkannt und erst dann notgedrungen vom Gesetzgeber umgesetzt. Dieses ist das erste Mal, dass die Mehrheit der Abgeordneten des Bundestages „freiwillig“ der Meinung sind, dass allen Bürgern die gleichen Rechte zustehen. Und das soll nicht wichtig sein in einer Demokratie? Es ist die Grundlage des Zusammenlebens überhaupt, und erst wenn diese gesichert ist, können sich alle mit wichtigen Themen wie Kinderarmut, Flüchtlingselend usw. befassen.

Dr. med. Reinhardt Trampe, per E-Mail

Andere Meinungen zulassen

Ja, ich halte die „Ehe für alle“ für richtig, aber den Hype darum für völlig falsch. Denn dieser Hype wird dafür sorgen, dass all jene, die anderer Meinung sind, sich von Politik und Medien wieder als rückwärtsgewandt abgestempelt fühlen, wegen ihrer Haltung schlimmstenfalls sogar lächerlich gemacht werden. Die Folgen davon lassen sich bestens in den Vereinigten Staaten beobachten. Der Grüne Bastian Hermisson hat 2016 in seiner Rede auf dem Bundesparteitag sehr deutlich erklärt: „Wir müssen (...) mit Andersgesinnten Kontakt suchen. Sonst sind wir selbst Teil des Problems und nicht der Lösung.“ Sich also nicht selbst zu feiern, sondern Verständnis für andere Ansichten aufzubringen, wäre – gerade in diesen Zeiten – angebrachter gewesen.

Birte Baldauf, per E-Mail

Befremdliche Triumphstimmung

Ein sehr kluger, ausgewogener Artikel zum Parlamentsbeschluss „Ehe für alle“. Angesichts der wahrhaft großen, von den Politikern zu lösenden Probleme, wirkte die ausgelassene Triumphstimmung der Spitzenpolitiker von SPD und Grünen doch recht befremdlich.

Gerd le Bell, per E-Mail

Es ist noch ein langer Weg

Ich kann mir nicht helfen, aber in diesem

Leitartikel steckt neben einigen Wahrheiten auch viel ‚versteckte‘ Diskriminierung, wenn man sich über die sichtbare Freude derjenigen im Parlament beklagt, die endlich nach jahrzehntelangem Hin und Her und krampfhaften Festhalten an Moralvorstellungen, ein bisschen Genugtuung verspüren und sich einfach nur freuen. Die Abqualifizierung von Minderheiten wird hier überdeutlich dargestellt nur um abzulenken, dass die Sexualität unverändert ‚der Stein des Anstoßes‘ ist. Der lange, lange Weg scheint noch nicht beendet zu sein. Man erlebt es täglich immer noch.

Volkert Carstens, Hamburg​

Aus der Seele gesprochen

Der Leitartikel spricht mir aus der Seele. Ich gönne den Leuten die Möglichkeit zu heiraten, aber für den Großteil der Bevölkerung gibt es wirklich wichtigere Themen. Es zeigt sich deutlich, dass in einigen Parteien die politische Klasse inzwischen in ihrer eigenen Wirklichkeit lebt, die mit der Realität eines Großteils der Bevölkerung wenig zu tun hat. Ob sich Herr Schulz für das Ergebnis bei der Bundestagswahl hiermit wirklich einen Gefallen getan hat, wird das Wahlergebnis zeigen.

Jürgen Axt, Hamburg

Der Normalität ein Stück näher

Es geht hier nicht nur um mehr Rechte, wie das Adoptionsrecht. Es geht um die jahrzehntelange Ausgrenzung dieser kleinen Minderheit in Bezug auf die Ehe und damit einer verbundenen systematischen Diskriminierung. Wenn ich zukünftig meinen Schülern und Schülerinnen so von meiner Frau erzählen kann, wie es meine heterosexuellen Kolleginnen tun, könnte es ein Stück mehr Normalität werden.

Sabine Krüger, per E-Mail