Der NDR produziert Nachrichten in Gebärdensprache für gehörlose Kinder - und ist damit Vorreiter innerhalb der ARD.

Es ist still im Studio. So still wie sonst nur zu nächtlicher Stunde. Dabei wird hier eine Nachrichtensendung produziert. Doch die drei Kinder vor der Kamera würden nicht hören, wenn jemand Regieanweisungen durch den Raum ruft. Sie würden nicht hören, wenn die Tonspur knarzt oder Einspieler aus den Lautsprecherboxen dröhnen. Lukas, Aaliyah und Ricco sind gehörlos. Und sie sind drei von insgesamt sechs Kindern, die für den NDR jede Woche die Kindernachrichten (im Original zu hören bei NDR Info) in Gebärdensprache präsentieren. Freitagnachmittag nach der Schule wird aufgezeichnet, Sonnabend früh steht das Ergebnis auf der Homepage des Senders.

Barrierefreiheit heißt das Stichwort, für das sich der NDR mehr als andere ARD-Sender starkmacht. Dazu gehören neben den Kindernachrichten in Gebärdensprache auch die Untertitelung von mehr als 40 Prozent des NDR Fernsehens sowie die Produktion von rund 25 Hörfilmen pro Jahr. "Wir haben damit ein Stück Egalität geschaffen. Und das steht dem öffentlich-rechtlichen Rundfunk ganz gut zu Gesicht", sagt Hörfunkdirektor Joachim Knuth. In der Tat, es sieht nicht nur nach außen gut aus, es ist auch ein wichtiges Signal für die rund 80 000 gehörlosen Menschen in Deutschland (darunter mehr als 2000 Gehörlose, die laut Versorgungsamt in Hamburg leben), die so mehr am gesellschaftlichen Leben teilnehmen können. Nicht nur, aber eben auch am täglichen Mediengeschehen.

Aber das sind große Worte. Theorie. Im Studio bei den drei Protagonisten geht es dagegen um sehr konkrete Dinge: Sitzt die Mütze richtig? Fällt die richtige Anzahl Haarsträhnen ins Gesicht? Und kann man vor der Kamera das Kaugummi unter der Zunge verstecken? Lukas, Aaliyah und Ricco sind 13 Jahre alt und besuchen die siebte Klasse der Hamburger Elbschule, die zusammen mit dem NDR das Kindernachrichten-Projekt initiiert hat und seit dem Sommer umsetzt. Begleitet werden die Kinder von der Gebärdensprachdolmetscherin Tabea Philipps und von Lehrer Ralf Windhoff. In der Schule erarbeiten sie die Nachrichteninhalte vorab im Gesellschaftsunterricht, vor Ort wird mit der Dolmetscherin geprobt, bevor es vor die Kamera geht. Gehörlose Kinder verfügen häufig über eine geringere Lesekompetenz. Dafür sind sie routiniert im Umgang mit der Kamera, arbeiten auch in der Schule häufig mit Videoaufnahmen. "Witzig und locker" sei die Stimmung im Studio, sagt Aaliyah und schiebt sich einen Schokoladenkeks gegen das Nachmittagstief in den Mund. "Und ich habe ein bisschen das Gefühl, ein Star zu sein." Auch Lukas lässt sich von der Studioatmosphäre nicht mehr verunsichern. "Am liebsten mag ich den Moment, wenn ich die Texte gelesen habe und überlege: Wie kann ich das am besten gebärden? Das ist der Moment, in dem etwas entsteht", sagt er.

Jeweils vier Nachrichtenstücke - von Hagenbecks Elefantenbaby bis zur Steuersenkung - werden mit schnellen Handbewegungen in die Luft gemalt, Kopfschütteln und hochgezogene Brauen begleiten die Gebärden. Wenn die Kinder müde sind, etwa nach Bundesjugendspielen oder besonders anstrengenden Schulstunden, ziehen sich die Aufnahmen dahin, da sich die Kinder öfter mal ver-gebärden, erklärt Lehrer Windhoff. Er kennt ihre stille Welt. Versteht, wie es sich in einer Welt lebt, die zunehmend aus Bildern und Tönen besteht. Die schneller wird und lauter, unübersichtlicher. Hier Orientierung zu bieten, Anregungen zu präsentieren, dafür engagiert sich der NDR mit wenig öffentlichem Getöse, aber umso nachhaltigerem Einsatz. Und begibt sich in eine vollkommen neue Welt.

Ein "Wechsel des Koordinatensystems", nennt es Hörfunkdirektor Joachim Knuth, der sich sehr wohl bewusst ist: "Es bleibt trotz aller Bemühungen - das liegt in der Natur der Sache - eine kompensatorische Form. Aber: Wir schaffen dort Angebote, wo es früher gar keine gab." Seit gut einem Jahr produziert der Sender auch Musikvideos in Gebärdensprache, von deutschen Künstlern wie Xavier Naidoo über Silbermond bis Clueso. Ein weiterer Punkt auf der langen Liste jener Dinge, die für gehörlose Menschen bislang nicht verfügbar waren. Und ja, Musik ist ein Leitthema im Leben aller jungen Menschen, ob gehörlos oder nicht.

Was fehlt?, habe man sich beim NDR gefragt, sagt Knuth zur Initialzündung für die Kindernachrichten. Phoenix, der Gemeinschaftssender von ARD und ZDF, bietet die ARD-"Tagesschau" in Gebärdensprache an - doch die ist für zehnjährige Kinder zu komplex. Also das Ganze auf Augenhöhe, authentisch präsentiert von der Zielgruppe. Hübscher Nebeneffekt: Auch manch ein Erwachsener guckt sich die Kindernachrichten auf der Homepage des Senders an. Schadet ja nichts, sich Börsengänge und Wahlergebnisse noch einmal auf den Punkt erklären zu lassen. Zunächst habe man es nur auf einen Versuch angelegt, sagt Knuth. "Aber heute kann sich niemand beim NDR mehr vorstellen, das Projekt wieder einzustellen. Wir halten an dem Thema fest."

www.ndr.de/info/programm/kinder/kindernachrichten