Moskau. Knapp zwei Jahre nach dem Einmarsch in die Ukraine ist in Russland eine Neuverfilmung von „Der Meister und Margarita“ erschienen, die ausgerechnet ein Kriegsgegner gedreht hat.

Eigentlich hatte aus Sicht konservativer russischer Patrioten alles recht harmlos angefangen: Michail Bulgakows Literaturklassiker „Der Meister und Margarita“ sollte verfilmt werden, wieder einmal. Es war das Jahr 2021, als die Dreharbeiten starteten: Russlands Vollinvasion in die Ukraine hatte noch nicht begonnen, aber die Beziehungen zum Westen waren bereits äußerst angespannt. Entsprechend hoch im Kurs stand auch damals schon die stolze Präsentation der eigenen Kultur.

Der staatliche russische Kinofonds hatte längst zugesagt, die Dreharbeiten mit 800 Millionen Rubel (8 Millionen Euro) zu unterstützen. Monate vor der Premiere wurde das Projekt in Moskauer Kinos groß beworben. Doch dann erschien der Film Ende Januar dieses Jahres - und das Entsetzen bei einigen war groß.

Regisseur als „Russophober“ und „Proukrainer“ beschimpft

In der Zwischenzeit nämlich war der Krieg ausgebrochen, und der in den USA lebende Regisseur Michail Lokschin fand unterstützende Worte für die von Russland angegriffene Ukraine. In propagandistischen russischen Telegram-Kanälen wurde Lokschin deshalb nun als „glühender Russophober“ und als „Proukrainer“ bepöbelt. Der kremlnahe Autor Sachar Prilepin schimpfte, ihm werde mit Blick auf die staatliche Mitfinanzierung des Films „übel“. Auch die Chefpropagandisten im russischen Staatsfernsehen echauffierten sich.

Schnell wurden Forderungen laut, den Film zu verbieten, um Lokschin, der 2020 mit der Netflix-Produktion „Silver Skates“ sein Debüt feierte, keine Bühne zu bieten. Doch dafür war es bereits zu spät: Die Russen nämlich strömen seit dem Premierentag förmlich in die Kinosäle. Moskauer Filmspielhäuser zeigen „Der Meister und Margarita“ teils zehnmal pro Tag, immer wieder sind die Vorstellungen ausverkauft. Seine enormen Produktionskosten in Höhe von 1,2 Milliarden Rubel (12 Millionen Euro) hat der Film längst wieder eingespielt.

Ein Grund für die Begeisterung dürfte sein, dass nach knapp zwei Jahren sanktionsbedingter Filmflaute nun endlich wieder ein aufwendig produzierter Blockbuster über die Leinwände flimmert - und dann ist es auch die Verfilmung des absoluten Lieblingsbuches vieler Russen. Doch hinter dem Erfolg von Lokschins Werk steckt wohl noch etwas anderes: nämlich, dass der Regisseur Bulgakows Meisterwerk in einer Art verfilmte, die durchaus auch als kritisch gegenüber Kremlchef Wladimir Putins Machtapparat verstanden werden kann.

Satire auf Stalins Zensursystem

Im Original ist der Roman „Der Meister und Margarita“, den Bulgakow kurz vor seinem Tod 1940 fertig schrieb, eine beißende und zuweilen äußerst unterhaltsame Satire auf das Zensursystem unter Sowjetdiktator Josef Stalin (1879-1953). Das Buch handelt von einem namenlosen „Meister“, der eine Erzählung über die biblische Figur Pontius Pilatus schreiben will, das aber angesichts des staatlich verordneten Atheismus nicht darf. Daraufhin schließen der Meister und seine Geliebte Margarita einen Pakt mit dem Teufel, der in Gestalt des mysteriösen Zaubermeisters Voland in Moskau sein Unwesen treibt und Vertreter des Staatsapparats schikaniert.

„Der Meister und Margarita“ ist dabei nicht nur ein Buch über Stalinsche Zensur, sondern auch selbst Opfer ebendieser gewesen: Veröffentlicht werden konnte das Werk erst Jahre nach Bulgakows Tod nach und nach ab 1966 - und das auch nur in äußerst gekürzter Form. In voller Länge erschien es in der Sowjetunion im Jahr 1973.

Filmregisseur Lokschin hat nun beide Stränge - die Romanhandlung und die Biografie des Schriftstellers - miteinander verwoben. Der von Jewgeni Zyganow gespielte Hauptprotagonist ist fiktiver Meister und historischer Bulgakow in einem. Heraus kommt dabei ein doppelt düsteres Werk über staatliche Repression, Denunziantentum und die daraus resultierende Verzweiflung.

Schon die Hetzjagd gegen den Meister durch seine Schriftstellerkollegen zu Beginn des Films ist so anschaulich dargestellt, dass es beim Zuschauen bedrückt. In den mehr als zweieinhalb Stunden, die der Film dauert und in denen der Meister nach und nach den Verstand verliert, ist das Gefühl der Beklemmung irgendwann förmlich greifbar.

August Diehl spielt die Teufelsfigur

Vor allem sehen viele Zuschauer in Lokschins Werk nicht nur die Grauen der sowjetischen Vergangenheit abgebildet - sondern auch Parallelen zum heutigen Russland. „Der neue „Meister und Margarita“ ist buchstäblich vollgepackt mit brandaktuellen Bildern und Hinweisen“, meint etwa der bekannte russische Filmkritiker Anton Dolin.

Die Teufelsfigur - verkörpert vom deutschen Schauspieler August Diehl - erinnere ihn an einen „ausländischen Agenten“, schreibt er mit Blick darauf, dass Russlands Machtapparat unter dieser Bezeichnung derzeit mehr und mehr Kritiker und Oppositionelle brandmarkt.

„Die Jagd auf den Meister ist eine Furcht einflößende Nachbildung der Mechanismen, die in der russischen Kultur in letzter Zeit zur Normalität geworden sind“, schreibt Dolin in seinem Gastbeitrag für das kremlkritische Portal „Meduza“ weiter. Er spielt damit vermutlich auf die vielen repressiven Gesetze an, die seit Kriegsbeginn erlassen wurden. So steht mittlerweile die vermeintliche Diskreditierung der russischen Armee ebenso unter Strafe wie die Darstellung homosexueller Liebe und anderer queerer Inhalte. Viele kritische Künstler sind ins Ausland geflohen.

Dass „Der Meister und Margarita“ trotz all dem weiter ungestört in den russischen Kinos läuft, wird mitunter durchaus mit Erstaunen zur Kenntnis genommen. Die kremlkritische Zeitung „Nowaja Gaseta“ findet, der Film sei ein „plötzliches Messer in den Rücken der russischen Propaganda“. Und Regisseur Lokschin selbst bezeichnete es US-Medien zufolge als „Wunder“, dass sein Werk in diesen Zeiten überhaupt herausgekommen sei.

Einige Beobachter erklären sich das mit den immensen Produktionskosten, die zurück erwirtschaftet werden mussten. Andere verweisen darauf, dass eine Verbannung eines solchen Kultklassikers aus den Kinosälen ein noch größerer Skandal wäre, den der Kreml kurz vor der Präsidentenwahl am 17. März alles andere als gebrauchen könne.

So oder so: Die Begeisterung der Russen für den Film reißt auch nach Wochen nicht ab. Und immer wieder wird in den Kinosälen am Ende der Vorführung sogar geklatscht.