Heiraten? Lieber nicht. Bodo Kirchhoffs epischer Roman “Die Liebe in groben Zügen“ beschreibt nicht Passion sondern die Qual der Liebe.

"Jeder ältere Mensch erschreckt einen jüngeren, auch wenn er nur einen Tag älter ist", so steht es in Bodo Kirchhoffs Roman "Die Liebe in groben Zügen", der einer der gewichtigsten in diesem Literatur-Herbst ist. Was allein schon damit zusammenhängt, dass fast 700 Seiten schwer in der Hand liegen, aber auch auf das Thema zurückzuführen ist, dessen sich der Schriftsteller angenommen hat. Dies ist die Liebe oder genauer noch: die Ehe. Müsste der Roman nicht viel eher "Die Ehe in genauen Zügen" heißen?

Es sind der Mittsechziger Bernhard Renz, den seine Frau nur mit dem Nachnamen anredet, und ebendiese, die den Namen Verena Wieland trägt, aber Vila genannt wird, an deren Beispiel die Anstrengung eines gemeinsamen Lebens erzählt wird. Er schreibt Drehbücher, sie hat eine kleine Kultursendung im Fernsehen. Es gibt eine Tochter, die in Amerika lebt, und eine Ferienwohnung am Gardasee. Renz fährt einen Jaguar, die Freunde des Ehepaares - sie ist übrigens einige Jahre jünger und Anfang 50 - gehören wie dieses zum Frankfurter Bürgertum, das abends ins Fitnessstudio geht, Fincas auf Mallorca sein eigen nennt und in schöner Regelmäßigkeit Essensverabredungen trifft. Es geht ihnen doch gut, eigentlich.

Aber es ist nun einmal so, dass die Liebe harte Arbeit ist, wenn sie sich nicht im Gefühls- und Hormonüberschwang des ersten Moments befindet. Renz ist ein gewohnheitsmäßiger Fremdgeher, und auch Gila blickt auf die ein oder andere Liebschaft zurück. Innerhalb ihrer Ehe, die als Lebensmodell ein altmodisches Konstrukt ist, können die beiden mit dieser notorischen Untreue umgehen - so scheint es. Doch dann, und davon berichtet dieser in weiten Bögen erzählende Roman, ist der scheinbar belastbare Toleranzgedanke nur noch ein Torso, an dem die Fetzen einer langen Ehe hängen. Gila beginnt eine Affäre mit dem Lehrer Kristian Bühl, der sich über den Winter in der italienischen Bleibe der Eheleute einquartiert. Bühl ist ein Einzelgänger, und er hat einen Franz-von-Assisi-Spleen. Deswegen wandert er auf den Spuren des Heiligen, den einst eine unmögliche Liebessehnsucht an eine Nonne namens Klara band.

"Die Liebe in groben Zügen" ist also eine Dreiecksgeschichte, obwohl sie auch das Bäumchen-wechsle-dich-Motiv von Goethes "Wahlverwandtschaften" aufgreift: Eine Jugendliebe Bühls wird zur Gespielin des alternden Renz. Die ist schwer krank und wartet auf den Tod; man hat nicht viel zu lachen bei der Lektüre. Wie auch? Der Frankfurter Kirchhoff, 1948 in Hamburg geboren, setzt mit seiner mäandernden Ehehöllen-Prosa ein Gegenstück zu seinem vor zwei Jahrzehnten erschienenen Erfolgsbuch "Infanta", und er zitiert dieses sogar, wenn er der weiblichen Hauptfigur Gila die alten Worte in den Mund legt, wonach Liebe "die einzige positive Katastrophe" im Leben sei.

Als jüngerer Leser, der die Lebenserfahrung eines langen Zusammenseins nicht kennt, erschreckt man tatsächlich, um wiederum den eingangs zitierten Satz aufzugreifen, angesichts des Bildes, das Kirchhoff zeichnet. Denn was man von diesem modernen Ehebruchsroman, der den klassischen Vorgänger "Madame Bovary" stellenweise wie ein vergnügliches Buch aussehen lässt, in Erinnerung behält, ist nicht die Sehnsucht seiner Protagonisten. "Sehnsucht nach Liebe ist die einzige schwere Krankheit, mit der man alt werden kann, sogar gemeinsam", so hebt der Roman ja an. In Erinnerung bleiben die Brutalität und die emotionale Grausamkeit, mit denen Renz und Gila ihren amourösen Stellungskrieg führen.

Der Furor Gilas äußert sich sowohl in der glühenden Leidenschaft für den anderen Mann als auch in den düsteren Fantasien ihren Ehegatten betreffend: Ach, wäre er nur tot! Dann begänne ein neues Leben. Kontrastiert wird diese Empfindung von der über Jahre gewachsenen Anhänglichkeit: die Dialektik der Liebe.

Selten ist das Zerfasern und Verknoten, das Auseinanderdriften und Festhalten der Liebe so unbarmherzig und gnadenlos in den Details beschrieben worden wie hier. Kirchhoffs sprachmächtiger Stil hält den Roman zusammen, während die Hassliebenden auseinanderdriften.

Der Leser begleitet in diesem psychologisch leider schlüssigen Drama (wer gehört hier eigentlich nicht auf die Couch?) zwei, die sich gebunden haben, auf ihren Wegen der, nun ja, Liebe: nach Kuba, in die Karibik, nach Italien oder München. Ihr Tun und Lassen dreht sich um die Frage, ob man bleiben soll oder gehen; wobei es Gila ist, die Liebeshungrige, die wirklich, auch aus Rache, aus dem abgeschmackten Eheleben ausbrechen will - Renz ist zu alt, um neu anzufangen. Der, der sich nie binden konnte, ist die komplementäre Kontrastfigur zu dem unglücklichen Paar: Bühl schleppt ein Missbrauchstrauma mit sich herum.

Es bleibt offen, ob er für den Tod des Peinigers im Bodensee verantwortlich ist. Kirchhoff verarbeitet seine eigene Vergangenheit: Vor zwei Jahren machte er öffentlich, dass er in einem Internat Opfer sexueller Übergriffe wurde. Die Bühl-Figur ist die große Schwachstelle in diesem ambitionierten Roman. Der braucht die umfangreichen Passagen schlichtweg nicht, in denen die Passionsgeschichte des Franz von Assisi erzählt wird.

Liebe ist bei Kirchhoff nämlich nicht Passion, sie ist Qual.

Bodo Kirchhoff: "Die Liebe in groben Zügen". Frankfurter Verlagsanstalt. 670 S., 28 Euro