Wandlitz steht für viele Deutsche in Ost und West immer noch für den Machtmissbrauch und das moralische Versagen der DDR-Führung. Die Historiker Elke Kimmel und Jürgen Danyel sehen in der ehemaligen Waldsiedlung Wandlitz jedoch mehr als die “Bonzensiedlung“.

Berlin (dpa) – "Friede den Hütten, Krieg den Palästen", lautete 1834 Georg Büchners Kampfansage gegen die Verschwendungssucht der Reichen und Mächtigen. Doch wie kann eine triste Siedlung aus den immer gleichen langweiligen Einfamilienhäusern 155 Jahre später für Empörung in der Bevölkerung sorgen?

Aus heutiger Sicht ist die Wut der DDR-Bürger 1989 auf ihre im Wald bei Wandlitz abgeschottet lebende Führung kaum noch nachvollziehbar.

Die Historiker Elke Kimmel und Jürgen Danyel tragen mit ihrer auf intensiven Archivrecherchen beruhenden Publikation "Waldsiedlung Wandlitz. Eine Landschaft der Macht" zu einem besseren Verständnis der Frage bei, warum die Siedlung zu einem "Sargnagel" für die SED-Führung wurde. Es ist an der Zeit, dass sich nach den Angestellten und den ehemals mächtigen Bewohnern nun auch Wissenschaftler der geschlossenen Lebenswelt der DDR-Obersten annehmen und eine distanziertere, analytische Perspektive bieten.

Kimmel und Danyel beschäftigen sich in dem 200-seitigen Band, der die gleichnamige Sonderausstellung im Barnim Panorama im Ort Wandlitz um viele Details ergänzt, nicht nur mit dem von der Bevölkerung besonders beargwöhnten System der "Sonderversorgung", sondern begreifen Wandlitz als weit über die Waldsiedlung hinausreichendes System. In zehn Kapiteln arbeiten sie unter anderem die Geschichte der Siedlung auf, die verwaltungstechnisch immer zu Bernau gehörte, und gehen sehr genau auf die Bewohner, den Alltag und die Protokollstrecke von Wandlitz nach Berlin ein. Zahlreiche Bilder und Karten sowie mehr als 700 Anmerkungen erweitern die erste historisch-kritische Publikation, die zusammen mit dem schmalen Band "Waldsiedlung Wandlitz. Eine Region und die Staatsmacht" im Ch. Links Verlag erschienen ist.

Als Udo Lindenberg sich 1983 in seinem Lied "Sonderzug nach Pankow" ironisch und provokant an Erich Honecker wandte, lebte der schon längst nicht mehr im idyllischen Viertel um den Majakowskiring in Pankow. Ab 1960 mussten die Mitglieder des SED-Politbüros, dem eigentlichen Machtzentrum der DDR, von Pankow in die Waldsiedlung Wandlitz in Brandenburg ziehen. Die Gründe lassen sich aus den vorhandenen Quellen nur lückenhaft rekonstruieren.

Die oft als selbstverständlich angenommene These, dass die Erfahrungen der SED-Führung mit dem Aufstand vom 17. Juni 1953 der ausschlaggebende Grund für die Entscheidung aus Berlin wegzuziehen, war, sehen die Autoren kritisch. Denn "in den wenigen überlieferten Dokumenten zur Vorbereitung und Durchführung des Umzugs nach Wandlitz [findet] der Schock des 17. Juni 1953 keine Erwähnung". Die Autoren gehen vielmehr davon aus, dass es "die infrastrukturellen und technischen Faktoren [waren], die einen Umzug von Pankow in eine neu gebaute, speziell auf die Sicherheits- und Betreuungsbedürfnisse der Politbüromitglieder zugeschnittene Wohnanlage nahelegten".

Für die Sicherheit der Bewohner, aber auch für die Betreuung und Versorgung war das Ministerium für Staatssicherheit (MfS) zuständig. Ob Personenschützer, Haushälterinnen, Gärtner, Köche, Kellner, Schneider oder Haustechniker der Waldsiedlung - sie alle arbeiteten für das MfS. 1989 waren das insgesamt sage und schreibe 3762 hauptamtliche Mitarbeiter.

In den umfangreichsten Kapiteln widmen sich Kimmel und Danyel der "Sonderversorgung" und dem Alltag in der Waldsiedlung. Während Walter Ulbricht einen bescheidenen Lebensstil pflegte und sich öffentlich volksnah und proletarisch gab, bildete sich in Erich Honeckers Amtszeit "ein umfassendes und sich immer weiter ausdifferenzierendes System der Sonderversorgung und Rundumbetreuung" heraus. Dazu gehörten zum Beispiel die Lieferung von Blumen und Brötchen frei Haus, ein komfortabler Dienstwagen sowie eine hervorragende medizinische Betreuung. Die Bewohner konnten in einer eigenen Verkaufsstelle, dem sogenannten Ladenkombinat, zu stark subventionierten Preisen einkaufen – auch verschiedene Westwaren, die sonst in der DDR nicht zu kaufen waren. Für Sofortaufträge fuhren Mitarbeiter sogar regelmäßig nach West-Berlin.

Langnese-Honig, Blendamed-Zahnpasta oder Penaten-Creme – die Vorlieben der Spitzenfunktionäre klingen heute eher lächerlich als luxuriös. Doch die – im Nachhinein überzogenen – Gerüchte von den paradiesischen Zuständen in der Waldsiedlung wirkten wie Gift in der DDR-Gesellschaft, einer Gesellschaft, in der es praktisch keinen Bereich des Lebens gab, der nicht vom Mangel gekennzeichnet gewesen wäre, und in der gerade Werte wie Bescheidenheit und soziale Gleichheit auch von der Führungsschicht hochgehalten wurden. Kein Wunder, dass die ersten Fernsehbilder aus der bis dahin streng abgeriegelten Politbürosiedlung im November 1989 in der Bevölkerung wie eine Bombe einschlugen und den Machthabern jegliche Glaubwürdigkeit kostete.

Kimmel und Danyel widmen sich im Prolog ihres Buches sehr eingehend der erzwungenen Öffnung der Siedlung und der medialen Berichterstattung, insbesondere der Elf 99-Reportage "Einzug ins Paradies". Diese Wandlitz-Reportage, die so eine enorme Wirkung entfaltete, kann man sich in der Sonderausstellung im Barnim Panorama ansehen. Die von Elke Kimmel kuratierte Ausstellung ist eine reduzierte, aber durch Objekte und Fotos bereicherte Version des Buches. Sie ist besonders für Einsteiger in das Thema empfehlenswert, während das Buch das ehemalige "Funktionärsghetto" tiefgründig und von allen Seiten betrachtet.

Auch am historischen Ort, nur wenige Kilometer vom Barnim Panorama entfernt, kann man sich dank des Potsdamer Zentrums für Zeithistorische Forschung und der Gemeinde Wandlitz seit Kurzem mit Hilfe von Stelen informieren und auf dem weitläufigen Gelände, auf dem sich heute eine riesige Reha-Fachklinik befindet, orientieren. "Authentisches" findet man jedoch wenig. Die Wohnhäuser der Politbüromitglieder stehen zwar noch, aber auch sie sind Teil des Klinikbetriebs. Im kollektiven Gedächtnis wird der Name "Wandlitz" trotzdem verankert bleiben – als Beispiel für die Kluft zwischen den hohen Ansprüchen einer politischen Elite und ihrem moralischen Versagen in der Praxis.

- Jürgen Danyel, Elke Kimmel: Waldsiedlung Wandlitz. Eine Landschaft der Macht. Ch. Links Verlag, 228 Seiten, 30 Euro, ISBN 978-3-86153-876-9.