Berlin. Eine junge Frau gerät in die Mühlen der Männerjustiz und geht daran zugrunde. In ihrem beklemmenden Roman beschreibt die Schweizer Autorin einen historischen Kriminalfall.

"Über Frauengeschicke bestimmen stets die anderen", heißt ein Schlüsselsatz in Michèle Minellis Roman "Die Verlorene".

Tatsächlich sind es immer Männer, die in Frieda Kellers Leben das Sagen haben: Erst ist es ihr strenger Vater, der ihre Freiheit beschneidet, dann der Dienstherr, der sie schwängert und die ledige Frau ins Chaos stürzt. Später sprechen männliche Richter die verzweifelte Kindsmörderin schuldig und Gefängniswärter zwingen ihr ein mitleidloses Reglement auf. Am Ende zerbricht Frieda Keller an den Männern und ihren Gesetzen.

Schon als kleines Mädchen bekommt sie eine Ahnung davon, was sie erwartet, wenn sie die frechen Buben beobachtet: "Es schien, sie trugen keine Schuld, keine Pflicht zur Sühne, nicht wie Mädchen." Denen saß dagegen immer "das schlechte Gewissen auf der einen Schulter und die Angst auf der anderen."

Die Schweizer Autorin Michèle Minelli (46) hat sich bei ihrem neuen Roman an einem historischen Fall orientiert, der seinerzeit für Schlagzeilen sorgte. Im Jahr 1904 wurde in St. Gallen die ledige Schneiderin Frieda Keller wegen Mordes an ihrem kleinen Sohn zum Tode verurteilt. Auf ihr Gnadengesuch hin wurde die Strafe in lebenslange Haft umgewandelt, von denen die Gefangene 15 Jahre absitzen musste, teilweise in strenger Einzelhaft.

Als Frieda Keller entlassen wird, ist sie eine gebrochene Frau. Nicht auf der Anklagebank sitzt dagegen der Mann, der ihr Leben ruiniert hat, der Vergewaltiger Zimmerli. Der verheiratete Wirt entzieht sich nicht nur der Verantwortung für seine Vaterschaft, er hat auch keine Anklage zu fürchten. Denn nach einem damaligen Gesetz, das uns heute unglaublich erscheint, konnten verheiratete Männer bei Vergewaltigung nicht belangt werden. So sollte der Ehefrieden nicht gestört werden.

Frieda Keller dagegen trifft nicht nur die ganze Verachtung der Gesellschaft für uneheliche Mütter, sie muss auch für den Unterhalt des Kindes im Heim allein mit ihrem spärlichen Lohn aufkommen. Als das Heim den Jungen nicht länger aufnehmen will, gerät sie in Panik, meint die Last nicht mehr tragen zu können. Sie ermordet das Kind in einem Wald.

Michèle Minelli zeigt mit großem Einfühlungsvermögen die Verlogenheit und Heuchelei der damaligen Gesellschaft, die Vergewaltiger ungeschoren ließ und Frauen zu Allein-Schuldigen abstempelte, bis diese am Ende selbst daran glaubten. So entgegnet Frieda auf den Vorbehalt des Staatsanwalts, warum sie ihr Kind denn in ein Heim abgeschoben habe: "Wo hätte ich das Kind denn hingetan? Hatte ich das Elend durch meine Schwäche doch selbst zu verantworten." Von der hoffnungsfrohen Tochter eines Schusters, die dem Leben mit Selbstbewusstsein entgegensieht, bleibt am Ende nichts mehr übrig.

Atmosphärisch lässt Minelli eine vergangene Zeit wiederauferstehen. Der Roman, der auf zahlreichen Originaldokumenten basiert und diese auch zitiert, gibt sich so authentisch wie möglich. Einmal durch regionale Einfärbungen, dann aber auch indem er sich im Tenor der damaligen Sprache anpasst etwa durch nostalgisch anmutende Wörter wie Hagestolz, Schabernack oder moros.

Bisweilen übertreibt es die Autorin jedoch mit ihrem antiquierten Stil. Auch hätte der Roman sicher gewonnen, wenn er da und dort gestrafft worden wäre. Die kraftvolle Sprache bleibt aber beeindruckend, ganz besonders imponieren die Naturschilderungen, in denen sich all die Seelenqualen der Protagonistin widerspiegeln, etwa am Tag des Mordes.

Einzige männliche Lichtgestalt in diesem beklemmenden Roman ist Friedas Verteidiger Arnold Janggen. Dieser aufgeklärte Mann sieht in dem Fall die Gelegenheit, den "moralisch doppelbödigen Zeitgeist" anzuprangern. Vergebens, er verliert den Prozess. Es wird noch Jahrzehnte dauern, bis die empörende Straffreiheit verheirateter Vergewaltiger aufgehoben wird. Für Frieda Keller zu spät. Sie stirbt in geistiger Umnachtung.