Die großartige ARD-Dokumentation “ Ein deutscher Boxer “ zeichnet zu nachtschlafender Zeit die Karriere des Charly Graf nach.

Hamburg. Nimm einen Menschen. Nimm einen wie Charly Graf, setz ihn vor die Kamera und lass ihn erzählen, mit ruhiger Stimme, "mein Name ist Charles Graf, ich bin geboren am 16.11.1951 in Mannheim. Die meisten sehen mich als Boxer. Mit einem beschränkten Horizont. Und für mich sind es Siege, wenn ich die in ihrer Haltung zerstöre."

Es ist der Beginn des Dokumentarfilms "Ein deutscher Boxer", der heute um 23.45 Uhr läuft und der so großartig und aufwühlend ist, dass sowohl Sendezeit als auch -termin ein kleiner Skandal für die Programmplaner im Ersten sind. Denn gerade hat die Fußball-Europameisterschaft begonnen, wen interessiert da kurz vor Mitternacht die Geschichte eines Boxers, der aufstieg und fiel, wieder aufstand und sein Leben nun im Kleinen meistert - mit einer Würde und Schönheit, die mehrmals im Film zu Tränen rührt?

Wann Charly Graf es in seinem Leben einmal leicht hatte, ist schwer zu sagen. Er, der Sohn eines schwarzen US-Soldaten und einer ungelernten deutschen Arbeiterin aus ärmlichsten Verhältnissen. Im Film erzählt er, wie er als Kind von einer Creme träumte, die seine Haut weiß werden ließ. Sein Vater war kurz nach der Geburt in die USA zurückgekehrt, seine Mutter zog ihn in einer Baracke groß. In den 70er-Jahren boxte sich Graf bis an die Spitze des deutschen Schwergewichts, rutschte ab, erst ins Rotlichtmilieu, dann ins Gefängnis. Von dort, aus der ummauerten Welt der JVA Stammheim, gelang ihm in den 80er-Jahren der Weg zurück in den Ring: Als Häftling wurde Graf 1985 Deutscher Meister im Schwergewicht.

Es ist eine Geschichte, die sich so nur in der Welt des Boxens abspielen kann. Da sieht einer aus wie Muhammad Ali, boxt auch wie er, hat Erfolg, wird kriminell - und sucht doch eigentlich nur Anerkennung. Weil er sie sein Leben lang nicht erfahren hat. Charly Graf ringt nicht um Fassung, wenn er über diesen lebenslangen Kampf erzählt. Er macht nur Pausen. Manchmal ist es schwer, die zu ertragen, weil man schon ahnt, dass da mit jedem Satz ein Nochmehr an Schlimmem kommt. "In der Zeit hat es dann auch gefruchtet, was man mir immer eingeredet hat. Dass ich anders bin. Nicht aufgrund meiner Hautfarbe. Sondern anders. Ich weiß noch, meine ersten Trainer, die haben das damit erklärt, dass ich eine andere Rasse bin." Pause. "Da war ich zehn, elf." Pause. "Irgendwann habe ich diesen Mist geglaubt." Pause. "Aber ich bin keine andere Rasse, das bin ich nicht. Ich bin ein Mensch mit Gefühlen, der sich nach Liebe sehnt, Freundschaft." Pause. "Der aber in totaler Einsamkeit lebt." Schnitt.

Charly Graf hat dieses Leben ausgehalten, mit all seinen Pausen. Insgesamt zehn Jahre saß er in Haft, unter anderem wegen Zuhälterei, und an einer Stelle sagt er, dass man niemanden resozialisieren könne, der in der Vergangenheit nicht sozialisiert war. Im Gefängnis freundete Graf sich mit dem ehemaligen RAF-Terroristen Peter-Jürgen Boock an, der ihm Hermann Hesse und William Faulkner zu lesen gab. Der Ex-Terrorist und der Boxer - im Film sieht man sie oft zusammen.

Der Mix aus aktuellen Interview-Sequenzen und historischem Filmmaterial ist dabei wirklich erstaunlich. Es ist ein großer Zufall, dass ausgerechnet Grafs Mutter im Rahmen eines Beitrags über "Kinder amerikanischer Neger-Soldaten und deutscher Mütter" im Jahr 1955 interviewt wurde. Eine junge, müde Frau ist da zu sehen, den kleinen Charles auf dem Schoß, und der Reporter aus dem Off stellt ihr, so penetrant und belehrend es nur geht, Fragen nach der Zukunft der beiden: "Sie wollen das Kind nicht hergeben?" - "Nein." - "Aber vielleicht ginge es dem Kind woanders besser, sagen wir, es würde adoptiert werden?" - "Auf gar keinen Fall."

Es ist ein großes Verdienst dieses Films, dass er immer auf Distanz bleibt, dass er niemals wertet. Eric Fiedler, der Regisseur, hat schon einige Preise gewonnen, er weiß einfach, wann es nur einen Menschen braucht, eine Stimme und eine Geschichte. Er lässt Charly Graf erzählen, er hat Hartmut Scherzer und Jean-Marcel Nartz als Kronzeugen gewonnen. Der Sportjournalist Scherzer gilt als unantastbar integer, Nartz kennt die Box-Szene wahrscheinlich besser als die Klitschkos.

Ganz am Ende kommt auch der Box-Promoter Wilfried Sauerland zu Wort. Es geht um den entscheidenden, um den wohl besten Kampf des deutschen Boxers Charly Graf - den er verlor. Obwohl er der Sieger war und weil die Kampfrichter ganz offensichtlich bestochen waren. Der Gegner von damals, Thomas Classen, gibt es vor der Kamera zu. "Ob das vielleicht eine flapsige Antwort von ihm war", sagt Sauerland lapidar, "weiß man ja nicht, ich hab das Interview nicht geführt." Und was er daraufhin sagt, ist so entlarvend, so niederträchtig und klein, dass es schlichtweg sprachlos macht.

"Ein deutscher Boxer" ist ein wichtiger Film. Ein Stück deutscher Boxgeschichte muss nach ihm neu geschrieben werden. Und auf jeden Fall ist er größer als alles, was gerade bei der Fußball-EM passiert.

"Ein deutscher Boxer" heute 23.45 Uhr, ARD