Am Montag starb Ivan Nagel in Berlin. Er machte das Deutsche Schauspielhaus in den 70er-Jahren zur wichtigsten deutschen Bühne.

Hamburg. In der mehr als 110-jährigen Geschichte des Deutschen Schauspielhauses gab es mehr Intendanten als an jedem anderen deutschsprachigen Theater. Aber nur drei dieser Intendanten schafften es, die größte deutsche Sprechbühne aus der Theaterlandschaft herausragen zu lassen: Gustaf Gründgens, Ivan Nagel und Frank Baumbauer. Nagel, der von 1972 bis 1979 Intendant des Deutschen Schauspielhauses war und der eine Kunst etablierte, die damals kühn und aufregend war, heute allerdings gelegentlich verschrien ist, das Regietheater. Er holte alle in dieser Zeit stilbildenden Regisseure nach Hamburg: Rainer Werner Fassbinder, Peter Zadek, Jérôme Savary, Luc Bondy, Wilfried Minks, Jürgen Flimm, Rudolf Noelte, Giorgio Strehler, Claus Peymann und viele andere, die dann jahrzehntelang das deutsche Theater stilbildend prägten.

Nagel war der Erste, der Bob Wilsons fantastische Bildwelten in Deutschland zeigte (1976, "Einstein on The Beach"), und er präsentierte manches Wunder des Welttheaters, als er 1979 das "Theater der Nationen" in Hamburg gründete. Ivan Nagel war einer der bedeutendsten Theatermacher in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, gleichzeitig aber auch ein luzider Kenner von Musik, bildender Kunst und Literatur. Er war ein klassischer Intellektueller, ein Mann des klugen Wortes, getrieben von der Liebe zur Sache. Am Ostermontag starb Ivan Nagel im Alter von 80 Jahren in Berlin.

Ivan Nagel war mein erster Chef. 1976 kam ich aus Berlin nach Hamburg und wurde Regie- und Dramaturgieassistentin am damals weltberühmten Deutschen Schauspielhaus. Es war das Theater der großen Künstler, in dieser Zeit war die Kunst der Bühne noch ein intellektuelles Leitgenre.

Der Macher und Ermöglicher dieser Kunst war Nagel, der sie alle zusammenholte und gern auch mal als Dramaturg einem Regisseur wie Jürgen Flimm Nachhilfe erteilte. Flimm inszenierte "Dantons Tod" am Schauspielhaus, und Nagel sagte ihm: "Büchner hat in seinem Stück für die Zeichnung der radikalen Jakobiner Anregungen aus Joseph von Görres' Schrift 'Resultat meiner Sendung nach Paris im Brumaire des achten Jahres' verwendet." Um dann, 45 Minuten oder auch zwei Stunden später, druckreif zu erklären, was Büchner mit welcher Figur seines Stückes ausgedrückt hat.

Ich verstand gar nichts, war sehr beeindruckt. Obwohl Nagel, dieser streitbare Kosmopolit über Literatur, Musik, Politik oder Kunst immer nur Kluges zu sagen hatte, legte er beim Sprechen oft den Kopf schief, fragend, wie um Zustimmung heischend. Eigentlich war er scheu. Warum, sollte ich erst Jahre später erfahren. "Ich gehörte zu den drei Minderheiten", sagte er einmal und meinte damit, er war Ausländer - in Budapest geboren, später staatenlos - Jude und Homosexueller. Nie konnte er sich irgendwo dazugehörig fühlen.

1931 wurde Ivan Nagel als Sohn eines Textilfabrikanten in Budapest geboren. Als die Nazis kamen, wurde er versteckt, entkam mit knapper Not dem Holocaust. Als der Stalinismus nach dem Krieg Ungarn eroberte, war er als Kapitalistenkind wieder unerwünscht, floh nach Salzburg, hörte dort Karajan und Furtwängler dirigieren, ging in die Schweiz, später nach Paris und Frankfurt, wo er bei Adorno Philosophie studierte. Zusammen mit Carlo Schmid sorgte Adorno dafür, dass Nagel Deutscher werden konnte. Die Erfahrungen von zwei Diktaturen und dem "ununterbrochenen Besitz des unrichtigen Seins" haben Nagel dazu getrieben, immer wieder gegen falsche Gewissheiten anzugehen, für Humanismus zu kämpfen und sich nicht anzupassen. Sein Leben ist eine Kulturgeschichte unserer Zeit, eine Geschichte des Ausgestoßenseins und der Rettung, von Wahrheitssuche und Befreiung.

Ivan Nagel war kein Schöngeist, sondern ein schneidend kluger, immer wieder von Herausforderungen getriebener Denker. Er war Kosmopolit, Kopfmensch mit heißem Herzen. Seine Götter hießen Mozart, Shakespeare, Michelangelo, Goethe und Giotto. Nagel war Publizist und Buchautor, Kritiker und Dramaturg, Hochschulprofessor und Übersetzer. Er schrieb erhellende Bücher über Mozarts Opern und Goyas Maya. Keiner hat so oft wie er die Fronten zwischen Theorie und Praxis gewechselt. Er war Berater für Kultursenatoren, Schauspieldirektor der Salzburger Festspiele, wo er Elfriede Jelinek förderte, er war ein wacher Beobachter und erkannte die großen Regieleistungen von Peter Brook, Ariane Mnouchkine und Peter Sellars zuerst.

Doch Theater, so sagte er einmal, darf sich nicht in zeitloser Schönheit wiegen. "Es ist dem Theater nicht erlaubt, ein amüsanter oder gefühliger Teil unserer Lebensroutine zu sein. Jeder Aufführung ist aufgetragen, dass sich in unserem Kopf und Herzen etwas Unwiederbringliches ereignet". Und: "Das Recht, schöner als das Leben zu sein, fällt dem Theater erst zu, wenn es den Mut hat, genauer, fremder, unerbittlicher zu sein als das Leben." Nagel war, wie die "Süddeutsche Zeitung" zu seinem 80. Geburtstag schrieb, "der außenseiterischste Insider des Kulturbetriebs". Nagel, der alle kannte, die im Geistesleben des Landes etwas zu sagen hatten, konnte für Künstler schwärmen wie ein Kind. In Hamburg hat er seine aufregendste Zeit erlebt. Mit der nackten, erst 17-jährigen Eva Mattes als Beppi in Kroetz' "Stallerhof" und 1976 mit einem schwarz angemalten Uli Wildgruber in Peter Zadeks "Othello"-Inszenierung. Es war der größte Theaterskandal, den ich in meinem Leben erlebt habe", sagte Nagel danach. Nachts um zwei, nach der Premiere schrien sich die Zuschauer aus Parkett und Rang eine halbe Stunde lang an. Damals hatte das Theater seine schönste Zeit.

Bis Freitag ist Ivan Nagel mit seinen "autobiographischen Gesprächen" um jeweils 0.05 Uhr auf Deutschlandradio Kultur zu hören.