Andere lesen eine Stunde und signieren dann Bücher, der Autor Benjamin Maack liest 24 Stunden nonstop in der Hasenschaukel. Das Abendblatt war dabei.

Hamburg. Andere lesen eine Stunde und signieren dann ihre Bücher, der Autor Benjamin Maack liest 24 Stunden nonstop in einer Kiezkneipe. Klingt verrückt? Ist es auch, ein bisschen zumindest. Und eine Mordsgaudi, ein anarchischer Spaß. Das Abendblatt war dabei.

Es ist 3.47 Uhr, als Benjamin Maack, der ängstliche und doch auch furchtlose Schriftsteller aus St. Pauli, das erste Mal gähnt. Er drückt dieses Gähnen weg. Die Müdigkeit darf ihn nicht kriegen. Jetzt schon gar nicht und später am besten auch nicht. Es ist die Nacht von Sonnabend auf Sonntag. In der zur Lesebühne umfunktionierten Raucherkammer der Hasenschaukel, einer kleinen Indie-Pinte auf dem Kiez, bemüht sich der 33-Jährige, eine Handvoll Leute zu unterhalten. "24 Stunden, 24 Lesungen": So hat Maack seinen ganz persönlichen Literaturmarathon betitelt.

Man muss furchtlos sein, wenn man einen Tag und eine Nacht, rund um die Uhr also, aus seinem Buch liest. Das Buch heißt "Monster" und ist Maacks zweite Prosa-Arbeit. Es handelt immer wieder vom Tod. Geschrieben wurde es, so wird Benjamin Maack später von einem Psychologen erfahren, von einem Autor, der ganz schön viel Angst hat. Jetzt freilich weiß er noch nichts von den Abgründen seiner Seele, wohl aber, dass er sehr müde ist. Draußen ist es dunkel. In der Hasenschaukel ist das Licht gedimmt, Benjamin Maack sagt: "Ich bin vollkommen im Arsch."

Noch 17 Stunden und 13 Minuten.

Kurz darauf gähnt er schon wieder, obwohl Tina Uebel gerade Gedichte von Günter Grass vorträgt. Es geht dort um die Lobpreisung männlicher Genitalien und dergleichen. Verrückt. Oder wie Uebel sagt: "Die Schwanzgedichte des Meisters." Was Nobelpreisträger so schreiben. Benjamin Maack wird wohl nie nach Stockholm fahren, um die höchste aller literarischen Ehren entgegenzunehmen. Im Literaturbetrieb gehört er nicht zum Establishment, sondern zum Underground, und deswegen also liest er nun mitten in der Nacht und den ganzen vergangenen Abend und den ganzen nächsten Tag auch noch.

"Eine lange, mühselige Verkaufsveranstaltung mache ich hier im Grunde", sagt Maack und stöhnt. Tina Uebel grinst, alle anderen auch.

Denn die 24-Stunden-Lesung ist natürlich vor allem: das leicht skurrile und auch ehrgeizige Vorhaben eines ebenso skurrilen Typen. Maack, im Brotberuf Journalist, ist ein rotbärtiger, beinah zierlicher Kerl im Holzfällerhemd, der ständig so wirkt, als sei er mit voller Absicht aus seiner eigenen Zeit gefallen: lieb und ein wenig kindlich, dabei schlagfertig und schlau. Das ist ein sensibler Mann, der in seinem neuen Buch vor allem über traurige Dinge schreibt, übers Sterben und über kleine Jungen, die nicht erwachsen werden wollen und doch müssen. Über einen Sohn, der nach der Aufmerksamkeit seiner Eltern giert, aber hinter der Katastrophe des bei einem Unfall getöteten älteren Bruders verschwindet. Es ist ein gutes Buch, dieses "Monster".

Maack gehört seit vielen Jahren zur Literaturszene Hamburgs. Seine Anfänge liegen im Poetry-Slam. Er hat mal einen Gedichtband veröffentlicht, dann einen Erzählband mit dem ziemlich genialen Titel "Die Welt ist ein Parkplatz und endet vor Disneyland". Seitdem weiß er, wie schwer es ist, Bücher zu verkaufen. Aber auch, wie viel Spaß es machen kann, sie mit ausgefallenen Veranstaltungen zu bewerben.

Wer Bücher verkaufen will, der muss eigentlich Anzeigen schalten. Oder dafür sorgen, dass Journalisten dieses Buch lesen und in der Zeitung, im Radio und am allerbesten: im Fernsehen besprechen.

Das ist eines der komischen Gesetze unserer Freizeitgestaltung: Dass man sich vom Fernsehen überreden lassen muss, ein Buch zu lesen.

Wer ohnehin schon gerne liest, der geht dagegen auch auf Veranstaltungen, in denen der Schriftsteller sein Buch vorstellt. Meistens sitzt der Autor dann da, liest ein paar Kapitel, beantwortet Fragen aus dem Publikum und signiert Bücher. Diese Art der Literaturveranstaltung nennen Spötter "Wasserglaslesung". Wegen des Getränks, an dem der Autor verlässlich nippt.

Die regelmäßige Wasserzufuhr ist das Einzige, was diese Form mit der Herangehensweise Benjamin Maacks verbindet. Maack ist ständig am Trinken, um seinen Kreislauf in Schwung zu halten. Kein Kaffee, kein Bier. Wasser. Stilles Wasser. Ausufernder, härter und eindrucksvoller jedenfalls war selten eine Lesung.

Die Dichter-Kollegen (Uebel, Stefan Beuse, Nils Mohl, Michael Weins, Sven Amtsberg und andere) unterstützen den Marathon-Maack nach Kräften; der Autor hat sich einiges ausgedacht, was man mit dem Begriff "Literaturentertainment" ganz gut beschreiben kann: Mal lässt er sich von Sparringspartnern interviewen, die sein Innerstes nach außen kehren wollen. Mal, wie mit Tina Uebel, stellt er meistgehasste Meisterwerke vor - um danach aus ihnen Papierkraniche zu basteln. Mal liest er im Wettstreit eigene Texte gegen solche aus der Weltliteratur. Mal sitzt er mit Musikern auf der Bühne (Frank Spilker, Spaceman Spiff), mal schnippelt er mit Chef de Cuisine Stevan Paul Steckrüben.

In den frühen Morgenstunden muss Maack nicht nur gegen seine Müdigkeit kämpfen, sondern auch gegen die Gestalten der Nacht. Die wollen in der Hasenschaukel nur ihr Bier trinken und können mit dem tapferen Vorleser hinter dem Mikrofon so gar nichts anfangen. Maack tut einem fast leid in diesem Moment. Warum tut er sich das an?

Vielleicht, weil hinter der Lust am Auftritt und dem Spiel mit der Literatur auch der tiefe Wunsch nach einer Künstlerexistenz steht. Die Gäste, die mal für eine Stunde kommen, mal für fünf, die kommen und gehen und im besten Fall wiederkommen, diese Gäste sind in der Hasenschaukel auch Beobachter eines irgendwie rührenden Willensaktes (natürlich immer im Gewande der Selbstironie). Am Ende meines Lebens will ich einen halben Meter Literatur haben, der von mir ist, sagt Benjamin Maack irgendwann, es ist ein Moment großer Ernsthaftigkeit. Das glaubt man zumindest.

Morgens um kurz vor zehn hat der Silbersack, die Kultkneipe nebenan, die Stühle hochgestellt, die Kippen und leeren Zigarettenschachteln in der Raummitte zusammengefegt, die Türen zum Auslüften weit geöffnet.

In der Hasenschaukel ist die Zeit zum Auslüften längst noch nicht gekommen. Hier will der Langstreckenläufer Maack ganz bewusst noch im eigenen Saft schmoren. Wer erst jetzt dazustößt, dem bietet sich ein bizarres Bild: Ein Ritter in silbern glänzender, öliger Rüstung schmiert den derzeit sieben Gästen (darunter ein flachsblonder Dreijähriger) Himbeermarmeladenbrötchen und Käsestullen. Benjamin Maack trägt offen nach außen, was er - der sich inzwischen seit mehr als 13 Stunden wacker auf der Bühne hält - praktisch Übermenschliches geleistet hat: Er ist, jedenfalls in diesem Moment, der Superheld der lokalen Off-Literaturszene. Ein stadtreinigungsfarbener Superheldenumhang flattert um seine Schultern, eine grüne Superheldenmaske sitzt über den Augen, orange leuchtende Superheldengamaschen hängen über den Turnschuhen.

+++ Benjamin Maack: Monster-Marathon +++

Er liest.

Und liest.

Und liest.

Unverwüstlich, unermüdlich. Das Duracell-Häschen der Hasenschaukel. "Hat ein Ritter nicht immer Probleme mit Rost?", fragt er den rüstungsquietschenden Autor, Designer und Freund Dierk Hagedorn in sein hochgeklapptes Visier. "Natürlich", antwortet der und trifft mit seiner Gegenfrage vielleicht ganz entscheidend Maacks Motiv für diesen Trip: "Haben wir nicht alle Probleme mit Rost?"

Gefangen sein in einem mittelmäßigen Leben, das sei in der Tat keine sehr verlockende Vorstellung, hat Maack vorab zu Protokoll gegeben, man müsse sich daher "Meilensteine in sein Leben schlagen".

Er selbst übrigens halte sich keineswegs für einen großen Autor, eröffnet er auch dem für Stunde 15 geladenen Psychologen Johan Poßin, und es klingt nicht einmal nach Koketterie. "Aber ich denke, ich habe für meine Möglichkeiten etwas Großes gemacht."

Die kamikazehafte Veranstaltung entblößt den Autor, lässt ihn gerade nicht hinter seinen Geschichten und Texten verschwinden, umso weniger, als jeder Protagonist in jeder Geschichte auch seinen eigenen Namen trägt. Benjamin, Benjamin, Benjamin. Seite um Seite. Stunde um Stunde.

Man könnte der Aktion, bei aller Ironie, durchaus Züge einer gewissen Zwanghaftigkeit unterstellen.

Es gibt sogar einen Fachterminus dafür. Einen "Vorwärtsvermeider" nennt der Psychologe ihn. Dahin gehen, wo es weh tut. Benjamin, der Autor, nicht Benjamin, der Protagonist, so wird hier fröhlich vor Publikum diagnostiziert, hat eine Angststörung. Schreiben ist seine Kompensation.

"Ich bin ja auch so müde. Ich habe gar keine Haut mehr, nur noch Nerven!", ruft der Patient betrübt, und man kann längst nicht mehr unterscheiden zwischen gespielter Verzweiflung und echter, hat den Überblick darüber verloren, was Attitüde ist und was authentisch. Fast ist man ein bisschen erleichtert, als der schreibende Koch Stevan Paul (noch so ein Lokalmatador) die Bühne zum Eintopf-Showkochen betritt und Thorsten Passfeldt (dito) Omas Steckrübenrezept in Gitarrentöne übersetzt, bevor es einem - in Stunde 18 - schließlich noch einmal so richtig pink ums Herz wird.

Frauke Scheunemann - mit ihrer Schwester Wiebke Lorenz ein Teil des Hamburger Bestsellerpseudonyms Anne Hertz - ist zum Coaching eingeladen. Auf dem Lesetischchen: eine plötzlich seltsam verloren wirkende, düstere Ausgabe von "Monster" - und ein ganzer Stapel der locker-flockigen Anne-Hertz-Romane. Rosa, rosé, pink, flieder, lila. Es quietscht. Es leuchtet. Es strahlt.

",Monster' ist ja jetzt nicht so ein Wohlfühltitel", stellt Scheunemann trocken fest. "Nee, nicht so", nickt Maack und zuckt mit den schmalen Schultern. "Es ist wahrscheinlich auch nicht Chick-Lit", sagt Scheunemann, deren Werke ganz ohne Zweifel eben diesem Genre zuzuordnen sind und die das in sympathischer Mischung aus Selbstironie und Souveränität auch ebenso vertritt. Prosecco-Literatur für Frauen. Unterhaltungslektüre. Kommt in den Feuilletons nur zum Gruseln vor, wird aber umso mehr konsumiert. Scheunemanns Romane tragen Titel wie "Dackelblick", zeigen dazu einen irrsinnig süßen Dackel auf dem knallpinken Cover und erzählen eine Liebesgeschichte, in der eine patente Geigenbauerin die Hauptrolle spielt. Allerdings aus Dackelsicht. Verkauft sich wie Bolle. Benjamin Maack seufzt.

Mal abgesehen von Inhalt (Abgründe!), Form (Erzählungen!) und Verlag ("Indie"!) steht die Diagnose der Expertin schnell fest: Die Umschlagfarbe ist das Problem. "Wir haben das selbst gemerkt. Bestimmte Farben laufen nicht so. Von dem hier ...", sie hält ein rosafarbenes Werk in die Höhe, "... haben wir 250 000 verkauft. Von dem hier ...", jetzt kommt das babyblaue vom Stapel, "... viel, viel weniger." - "Das heißt?", fragt Benjamin Maack vorsichtig. "Also, vielleicht so 60 000", sagt Scheunemann. Maack schluckt, sein Verleger, der an der Hasenschaukel heute auch die Kasse macht, lacht kurz laut auf.

Es ist eine Szene, die bei aller Fluffigkeit und übermütiger Trash-Seligkeit des noch folgenden Nachmittags doch im Gedächtnis bleibt. Die 24-Stunden-Lesung des Benjamin Maack ist - mit Torte zum Finale, Luftschlangen, Quiz und "Mitmachkärtchen" zum Sammeln - eine verrückte Aktion, ein anarchischer Spaß, ein PR-Coup für den kleinen Mairisch-Verlag, eine Li-La-Laune-Gaudi für alle Beteiligten (sowieso für die Zuschauer) und, nicht zu vergessen, natürlich ein selbst gebastelter "Meilenstein" für den Autor.

Verkauft wurden von "Monster" am Ende sechs Exemplare. Es ist ein hartes Geschäft.