Überraschung als Erfolgsprinzip: Die zweite Ausgabe des Überjazz-Festivals präsentierte am Wochenende über 30 Bands auf Kampnagel.

Hamburg. Die Abstimmung erfolgte mit den Füßen, sie war unbarmherzig und unüberhörbar. Ihren Klang muss man sich ungefähr so vorstellen wie das Knistern der Nadel auf der Einlaufrille einer zerkratzten Vinylplatte, allerdings krass verstärkt. Wenn die Leute in der K 6 auf Kampnagel ihre Plätze aufsuchen oder verlassen, knarren und quietschen der Boden und die Treppen wie nichts sonst in unserer Stadt. Man müsste ihn mal sampeln, diesen Sound, und in einer Radiosendung verwenden, in der die Hörer Hamburger Geräusche erraten sollen. Dieser Klang jedenfalls wird als akustische Signatur des zweiten Überjazz-Festivals womöglich länger im Gedächtnis bleiben als all die dort gehörte Musik. Kaum war ein Stück vorüber, trappelten scharenweise Leute den Ausgängen entgegen, derweil andere ihre Plätze einnahmen. In den drei kleineren Spielstätten waren die Wanderungsbewegungen kaum geringer, aber sie verursachten weniger Lärm. Stille in den Sälen zu schönster Bühnenmusik gab es auch.

Überjazz ist wie Elbjazz im Herbst, nur ohne Hafen und viel weniger weitläufig, weil alle Spielorte unter einem Dach liegen. Dafür verspricht Überjazz die Grenzüberschreitung als Prinzip bereits im Namen. Das Lockwort der Programmmacher, die sich, einer zeitgeistigen Marotte folgend, hier Kuratoren nennen, lautet "Genre-befreite Musik", als habe ein furchtloses Kommando kürzlich die Musik von irgendwelchen schweren Ketten losgeschnitten, mit denen sie unzulässig an definitorische Grenzen festgebunden war. Dabei ist die Postmoderne längst Mainstream. Egal, ob innerhalb einer Band Stil- und Genregrenzen niedergerissen werden oder ob ein Festivalprogramm den Job erledigt. Beides passiert schon lange.

Schließlich dreht auch die Welt des Jazz sich immer weiter, wenngleich ihr derzeitiges Rotationstempo einen nicht gerade schwindlig werden lässt. Bugge Wesseltoft pimpt den Flügel und sein toll eingestelltes E-Piano ja auch schon seit vielen Jahren mit Elektronik, aber immerhin weiß er damit immer feiner umzugehen. In der K 6 verfremdete und kommentierte der musizierende DJ Henrik Schwarz Wesseltofts Improvisationen an Laptop und weiteren Gerätschaften, die unter seinen Händen zu einer Art akustischem Chemiebaukasten wurden. Viel Geblubber und Gefiepe, schöne Flächen, reizvolle Räume. Dagegen agierte das ähnlich ausgelegte Duo Studnitzky/von Oswald komplett glücklos. Bitterer wurde beim ganzen Festival kein Act mit der Neugier des Publikums auf die Bands eine Tür weiter bestraft.

Zum Top-Aufreger des Festivals wurde der faszinierend unverschämte, lustige, begabte, angstfreie Chilly Gonzales. Zu später Stunde erprobte sich der kanadische Pianist, Komödiant und Rapper in Filzpantoffeln und Morgenmantel noch als Encounter-Therapeut. Eingeführt hatte er sich als eine Art Hans Liberg für die Klub-Generation, der auf scharf unterhaltsame Weise die Musik politisiert, um anschließend zwischen seifig und pfeffrig changierende Stücke hoch virtuoser Salon-Musik hinzulegen. Dazu begleitete ihn ein duldsames und fähiges Streichquartett aus Hamburg. Dass Gonzales die letzte gute Viertelstunde seiner Show nach zwei Uhr früh dem beharrlichen Kampf mit einem Besucher widmete, den er partout gegen dessen Willen auf die Bühne holen wollte, löste noch am nächsten Abend lange Diskussionen aus.

Aus den Sitzen riss es das Publikum nach dem Soloauftritt des finnischen Pianisten Iiro Rantala. Sein verlorenen Helden des Klaviers gewidmetes Konzert reichte von tiefschwarzem Gewühl im Bassbereich des Instruments über eine virtuos-verspielte Hommage an Bachs Goldberg-Variationen bis zu einem Triptychon musikalischer Nachrufe, in denen neben Rantalas Vermögen zu klingenden Charakterstudien vor allem seine Menschenliebe spürbar wurde. Auch dem Hamburger Saxofonisten Sebastian Gille glückte ein beeindruckendes Konzert. Zwar löste sein kompromisslos die eigene Seele auswringender Ton am Tenor ebenfalls starke Abwanderungstendenzen aus, aber wer blieb, erlebte einen hochkomplexen, ernsthaften, auf eigenen Wegen das Schöne suchenden Improvisator, und dazu das fantastische Pablo Held Trio.

Gedacht als Hommage an John Coltrane und Johnny Hartman, lieferte das McCoy Tyner Trio mit dem Tenorsaxofonisten Chris Potter und dem stimmschönen José James ein betrüblich-liebloses Konzert. Der einstige Klaviergigant Tyner nurmehr ein Schatten seiner selbst, der Tenorist ein kalter, guter Routinier, der Juniorsänger kaum mehr als ein Jazz-Hänfling. Und dass gegen genialen Dilettantismus auch im fortgeschrittenen Alter kein Kraut gewachsen ist: Den entbehrlichen Beweis erbrachten die Pyramids, die auch in den 40 Jahren ihres Bestehens nicht entfernt die Klasse des Art Ensembles of Chicago erreichen, dessen Magie und Musik ihnen offensichtlich Vorbild sind.