Jenny Beyer beschert den Zuschauern einen unvergesslichen Abend. Klug, sinnlich, verspielt und geradezu unwahrscheinlich verbunden.

„Setz dich hin, wo du willst“, sagt ein Tänzer am Eingang. „Bitte zieh dir vorher die Schuhe aus. Hier, willst du ein paar Socken über deine Strümpfe ziehen?“ Ungewohnte Fürsorge und ungewohnte Publikumsansprache sind Programm bei „Liebe“, dem neuen Stück der Hamburger Choreografin und Tänzerin Jenny Beyer, das am Mittwoch auf Kampnagel seine Uraufführung erlebte. Mit Nina Wollny, Chris Leuenberger und Matthew Rogers, drei ihr schon seit Jahren vertrauten Tänzern, hat Beyer eine Performance entwickelt, die ohne die Mitwirkung an ihrer Kunst interessierter Außenstehender nicht denkbar wäre. Seit vergangenen Oktober hat sie bei insgesamt 14 offenen Ateliers Leute in ihr Studio gelassen, ihnen zugehört, für sie getanzt. Erst allein, bald mit den drei Kollegen. Beyer hat alles gefilmt, aus dem Material Sequenzen zusammengefügt und sie zu einer Choreografie verdichtet.

Auf Socken betreten wir Zuschauer den mit hellem Tanzboden ausgelegten Raum. Die Tänzer, zwei Frauen, zwei Männer, dehnen derweil ihre Körper in wie improvisiert wirkenden Warm ups, zwei üben gerade eine komplizierte Hebung. Sie schauen uns Zuschauern dabei zu, wie wir unseren Sitzplatz auf einer der wahllos herumstehenden Bänke auswählen, sie nehmen auch verbal Kontakt mit uns auf. Von Anfang an etablieren die Tänzer eine unaufdringliche Nähe zum Publikum, die so gar nichts von der Encounter-Härte hat, mit der Zuschauer sonst bisweilen bei solchen Performances zum Mittun auf der Bühne genötigt werden.

„Wann bin ich nah, wann bin ich fern?“, fragt Jenny Beyer eine Zuschauerin, und tariert mit deren Hilfe das richtige Maß aus Nähe und Distanz aus. „Jeder Blick ist eine Berührung“, vereinbart sie mit einer anderen. Und lässt sich von deren Blick zu Bewegungen inspirieren; spontaner Ausdruck des Augenkontakts, den beide zulassen.

Die maximale Nähe des Blicks des Menschen auf den Menschen stellt Beyers Quartett sehr früh her. Die vier ziehen sich komplett aus, leben aber ihre ritualisierte Nacktheit in dieser Sequenz auf sehr unterschiedliche Weise und weit voneinander entfernt aus. Wir spüren: Dies ist keine Einladung zum Voyeurismus. Nacktheit soll nur als Thema nicht unterschwellig mitlaufen. Hat sie explizit stattgefunden, so das Kalkül, wird der Kopf leichter frei für andere Wahrnehmungen von Nähe.

Wie vier Mensch gewordene Elementarteilchen bespielen die Tänzer das Feld innerhalb und außerhalb des Bühnenraums, den wir irgendwann gemeinsam aus den Holzbänken errichten. Ein unvergesslicher Abend. Klug, sinnlich, verspielt und geradezu unwahrscheinlich verbunden.

Liebe Sa 23.5., 19.30 Uhr, Kampnagel, Jarrestraße 20 (Anreise hier), Karten 12 Euro