Sie lebt in Hamburg, er in Berlin. Oder er wohnt in Deutschland, die Familie in den USA. Fernbeziehungen schaffen Weltfamilien, sagen Soziologen.

Hamburg. Was hat der Begriff "Fernliebe" für einen Klang? Zunächst eher keinen guten. Er ertönt in Moll. In ihm schwingt die Weite unseres Zeitalters mit, sie lässt uns manchmal eng ums Herz werden. Denn Fernliebe ist ja lediglich das poetischere Wort für Fernbeziehung. Die ist ein Grundbefund unserer Zeit: Wir müssen flexibel sein, wenn die Arbeitswelt dies verlangt. Die Globalisierung hat die Welt zu einem Dorf schrumpfen lassen, in dem Grenzen verschwimmen; sie hat unsere Lebensform auf Dauer verändert. Früher war Australien ein ferner Ort, kaum je bereist: Jetzt schicken Unternehmen ihre Mitarbeiter zum langfristigen Auslandseinsatz dorthin.

Oder nach Berlin. Wer einmal Montag früh im ICE Hamburg-Berlin gesessen hat, der weiß, wie ein hohes Pendleraufkommen aussieht. Fernliebe ist gut für die Bilanzen von Bahnunternehmen und Fluggesellschaften. Aber was heißt das für die Beziehung? Vielleicht auch Gutes, psychologisch gesehen: Paar-Mobilität spiegelt unseren individualisierten Alltag. Sie schafft nicht nur Zwänge, sondern auch Freiräume. Sie kann die Trennungsquote verringern (aber die Zahl der Fremdgänger erhöhen!) und die Gefahr, in der Langeweile öder Routine wegzudämmern. Fernliebe kann überdies auch etwas anderes meinen als die örtliche Trennung Liebender: Nämlich eine Art Völkerverständigung, wenn Menschen, die aus verschiedenen Weltregionen stammen, in einer gelingenden Paarbeziehung zusammenfinden.

Das bekannte verheiratete Soziologen-Gespann Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim geht dem modernen Liebes-Chaos, den Chancen und Zumutungen der Postmoderne seit vielen Jahren auf den Grund; es hat einst für die schöne neue Welt der flexiblen Menschen das Wort von den "riskanten Freiheiten" geprägt. Ihre neue Studie trägt den Namen "Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter".

Die Studie der Becks nimmt nicht nur die Defizite und Leidenspotenziale der Liebe in den Blick. Damit unterscheidet sich die Untersuchung zum Beispiel vom neuen Buch der Israelin Eva Illouz ("Warum Liebe weh tut", Fischer, 466 S., 24,90 Euro). Das handelt von nichts anderem als Liebeskummer - soziologisch untersucht.

Liebeskummer ist ein Klassiker, ein Evergreen. Jeder kennt ihn. Man lernt ihn, wie überhaupt die romantische Liebe, in Romanen und Spielfilmen. Der Liebeskummer ist so alt wie die Liebe selbst. Die Fernliebe ist eher neueren Datums. Vielleicht hängt Ersterer mit Letzterer gar nicht so selten zusammen; besonders wichtig ist freilich, dass wenig so sehr wie die "Fernliebe" das spiegelt, was wir Globalisierung nennen.

Es ist die Internet-Videotechnik Skype, die als Losungswort für den aktuellen Zustand der Liebes- und Verwandtschaftsbeziehungen dient. Wenn die Liebste in London ist oder die Großeltern in der Türkei leben, dann überspannen familiäre oder amouröse Bande Ländergrenzen, nicht selten Kontinente. Wir leben in "Weltfamilien", so nennen die Becks die neu entstandene soziologische Größe. Sie grenzen sie völlig zu Recht begrifflich ab von der landläufig als Multikulti-Familie bezeichneten Normalität, vor allem in deutschen Großstädten. Weltfamilien sind für sie der Ort, "an dem sich die Differenzen der globalisierten Welt im wörtlichen Sinn verkörpern".

Geografische Ferne ist das eine Merkmal von Fernliebe, kulturelle Ferne die andere. Sie tritt auf, wenn zwei Menschen aus unterschiedlichen Kulturkreisen eine Beziehung miteinander eingehen. Die Differenzen können größer und kleiner sein, sie sorgen für Irritationen, Katastrophen, Überraschungen, Spannungen und oft genug für das Salz in der Suppe. Jan Weilers Roman "Maria, ihm schmeckt's nicht" etwa, mit Christian Ulmen in der Hauptrolle verfilmt, zeigt die komödiantischen Züge, die zum Beispiel auftreten, wenn ein Teutone eine Italienerin heiratet.

Dass interkulturelle Beziehungen für wechselseitige Missverständnisse sorgen, ist ein Topos der offenen Gesellschaft. Dass "Weltfamilien" nicht nur aus Weltbürgern bestehen, verdeutlicht das Beispiel der philippinischen Dienstmädchen in Südkorea. Der Umzug in ein fremdes Land ist oft ein ökonomisch erzwungenes Manöver. Kosmopolismus (also Weltbürgertum) entsteht ja gerade dann, wenn kein Zwang zum Übertreten von Grenzen zwingt.

Weltfamilien spiegeln, so beschreiben es die Becks hellsichtig, die Globalisierung. Sie sind im dritten Jahrtausend nach Christus eine feste Größe in der Familien- und Liebeslandschaft. Über den Charakter der gemischten Beziehungen lassen sich ganze Bücher füllen. Ihre Alltagstauglichkeit muss rechtlichen und emotionalen Prüfungen standhalten: Das fängt schon da an, wo bei transnationalen oft Scheinehen vermutet werden. Oder wo Eheleute in spe alle möglichen Unterlagen anbringen müssen (gerade hierzulande), wenn vor der Heirat bürokratische Hürden übersprungen werden müssen. Eine Beziehung zwischen Menschen aus unterschiedlichen Ländern muss Belastungen aushalten. Meist befindet sich derjenige, in dessen Heimatland das Paar lebt, in einer dominanten Rolle; bei einem Umzug kann es zu Machtverschiebungen kommen.

Rechtliche Barrieren? Machtpositionen? Interkulturelle Differenzen (wann essen, was essen wir)? Klingt wenig romantisch. Verliebtsein sei Revolution zu zweit, hat der italienische Soziologe Francesco Alberoni einmal gesagt. Permanente Revolutionen gibt es so wenig wie ewiges Verliebtsein, und in dieser Hinsicht sind Fernlieben genau so wie andere auch.

Aber sie sind, und das ist auch die charmante Folgerung des Autoren-Duos Beck, nicht nur die Bühne, auf der sich Dramen der Liebe abspielen. "Kann es sein, dass das, woran die große Welt scheitert, in den neuen Familien gelegentlich dennoch gelingt - die Kunst, mit und über Grenzen hinweg zusammenzuleben?" Eine rhetorische Frage, wie gemacht für die Agenda weltzugewandter Politiker. Weltfamilien als Pioniere der Globalisierung: In dieser Hinsicht steht es doch gut um die Liebe. In der Postmoderne muss sie verschiedene individuelle Konzepte zusammenhalten. Das schafft sie auch über geografische Grenzen hinweg. Man muss nur akzeptieren, dass sich die traditionellen Formen des Zusammenlebens verändert haben.

Die moderne Freizügigkeit verwandelt das Liebes- und Familienleben grundsätzlich, da muss man noch nicht mal Fernbeziehungen führen. Das klassische Familienmodell (Mann, Frau, Kinder) ist nur noch eines unter vielen. Mama ist mit Papa oft nicht mehr verheiratet, manchmal war sie es nie. Und die Schwester ist vielleicht gar nicht die richtige Schwester: Seit '68 haben erzkatholische und andere Moralisten nichts mehr zu lachen.

Wo die Becks den Gesellschaftswandel gelassen sehen, suchen andere noch die Konfrontation: Das zurzeit am heftigsten diskutierte Buch stammt von Melanie Mühl. Für die, gemessen an den Verhältnissen früherer Tage, Unordnung in Liebesdingen hat sie nichts übrig. Sie erteilt dem Durcheinander der Patchwork-Familien in einer Streitschrift ("Die Patchwork-Lüge", Hanser, 176 S., 16,90 Euro) eine deutliche Absage. Man gähnt ein wenig angesichts ihrer mit Verve vorgetragenen Gegenwartsdiagnostik, die sie in eine grundsätzliche These ummünzt: Scheiden tut weh, und Zusammenbleiben ist besonders für die Kinder besser als Sich-Trennen.

Das klingt wahr, natürlich verbergen sich hinter Patchwork-Schicksalen oft Tragödien. Vielleicht leben wir unser Leben tatsächlich zu sehr in Episoden. Aber wer will schon in so vorgefertigten Bahnen leben wie noch unsere Großeltern? Dann doch lieber Patchwork und Fernliebe.

Ulrich Beck und Elisabeth Beck-Gernsheim lesen aus ihrer Studie "Fernliebe. Lebensformen im globalen Zeitalter" (erscheint am 17. September bei Suhrkamp) auf dem Harbour-Front-Festival: 22.9., 21 Uhr, "Cap San Diego". Eintritt 12 Euro