Der Mahner Stéphane Hessel hat nach “Empört Euch!“ ein neues Buch vorgelegt. Wie zeitgemäß sind seine Thesen?

Warum sollte man den Mann ernst nehmen? Neu sind seine Thesen nicht. Er fordert ein "entschiedenes Nein" zum "Diktat von Geld und Profit" und verlangt ein "entschiedenes Ja" für "umfassende soziale Sicherheit". Unsere Gesellschaft ist durch tiefe Ungleichheit bestimmt und beherrscht vom Finanzkapital? Ach. Wenn es so etwas wie einen Klagegesang der Stunde gibt, der uns umtönt, ob er nun berechtigt erscheint oder nicht - dann ist es dieser. Wieso also auf jenen Mann hören, der ihn jetzt noch ein weiteres Mal anstimmt, in eleganten, gesetzten, beweglichen Worten?

Die Frage, warum wir Stéphane Hessel ernst nehmen, warum wir ihm mit vorsichtiger Bewunderung begegnen und seine Thesen nicht mit strenger Kühle bewerten, sondern wohlwollend lauschend aufnehmen - sie ist bislang unbeantwortet geblieben, ungeachtet des Wirbels um sein im Winter in Deutschland erschienenes Pamphlet "Empört Euch!". Vielleicht hat sie noch keiner gestellt, weil man sich nicht traut.

Stéphane Hessel sitzt vor der Villa des Berliner Literaturhauses in Charlottenburg bei Kaffee und Croissant. Vor einigen Jahren zeigte man hier eine Ausstellung über seinen Vater, den Schriftsteller Franz Hessel, der Ende der Zwanzigerjahre durch diese Gegend der Stadt lief und darüber reduziert-epische Prosastücke schrieb. "Spazieren in Berlin" etwa, ein Buch, das Walter Benjamin als das Eintreten des Flaneurs Pariser Prägung in die deutsche Denkwelt feierte. Es war ein kurzer Besuch: Ende der Dreißigerjahre, gerade hatte er noch Proust, Balzac und Stendhal übersetzt, floh Franz Hessel vor den Novemberpogromen mit der Familie nach Frankreich. Dem Sohn Stéphane ist die beiläufige Gebildetheit jenes bürgerlichen Berlins des letzten Jahrhunderts anzumerken, trotz oder gerade wegen seiner 93 Jahre. In gewähltem, endsilbengenauen Deutsch zitiert er in einem Moment Rilke und entschuldigt sich im nächsten für seine leichte Müdigkeit. Er hat gestern lange über "Engagiert Euch!" gesprochen, das Büchlein von 60 Seiten, das heute herauskommt. Doch, das Interesse aus Deutschland sei ungewöhnlich groß, es habe ihn überrascht.

Folgt man dem Untertitel der deutschen Übersetzung, ist "Engagiert Euch!" doppelt modisch, ein "Gespräch" und eine "Streitschrift" zugleich. Über die vergangenen zwei Jahre hat sich Hessel mit Gilles Vanderpooten unterhalten, einem französischen Journalisten von Mitte zwanzig, herausgekommen ist ein Gedankenaustausch, der um die Themen Entwicklungspolitik, Umweltschutz und die Grundwerte der Demokratie kreist. Auf den letzten Seiten ist die Allgemeine Erklärung der Menschenrechte von 1948 abgedruckt, an deren Ausformulierung Stéphane Hessel als ehemaliger Résistance-Kämpfer und Diplomat mitarbeitete. Auf der ersten steht ein Appell an die Jungen von heute: "Setzt euch zur Wehr!"

Betrachtet man schlicht die Argumente, die aus dem Gespräch hervortreten, dann wirkt "Engagiert Euch!" mal wie ein sozialdemokratisiertes Thesenstück eines Globalisierungskritikers, mal wie ein letztes Aufscheinen der Skepsis der Frankfurter Schule in grüner Gestalt - in jedem Fall nicht radikal, sondern altbekannt und beinahe brav. Auch wenn unter den blumigen Hymnen, mit denen "Empört Euch!" und sein Autor im Winter gefeiert wurden, ein kritischer Zwischenton zu spüren war, so blieb er doch unausgesprochen. Sicher ist ein Denker, der gegen die Nationalsozialisten gekämpft und das Konzentrationslager Buchenwald überlebt hat, der Sekretär der Uno-Menschenrechtskommission war und lange Jahre Diplomat und dessen Eltern die intellektuelle Welt Deutschlands mitprägten, sicher ist ein solcher Mann eine Lichtgestalt des vergangenen Jahrhunderts. Aber was bedeutet unsere Faszination für diese Welt?

Hessel sagt, die Gespräche mit Vanderpooten, der sein Urenkel sein könnte, hätten noch vor dem ersten Pamphlet begonnen. Es gehe um das Weitergeben eines Geschichtsbewusstseins an die nächsten Generationen, an die Zukunft.

Sicher: Hessel, der gentlemanhafte Diplomat im Gespräch mit Vanderpooten, dem wissbegierigen Umweltaktivisten - da sucht ein Weltverbesserer das Gespräch mit einem anderen. Was ist dagegen schon einzuwenden? Was den einen Protest bedeutet, ist den anderen abwartende Gelassenheit.

Zum Abschluss kommt man nicht umhin, ihm eine persönliche Frage, nämlich die nach dem Vater und seiner Vergangenheit in Berlin zu stellen. Warum hat er für seine Gedanken diese Form gewählt, die der Streitschrift und des Gesprächs - und nicht die der Dichtung, wie sein Vater? "Ach, bei uns zu Hause wurde immer so viel gedacht und geschrieben", sagt Hessel als spräche eine tiefe Einsicht aus ihm. "Ich wollte nicht schreiben, ich wollte handeln."

Es gibt Fälle, in denen die Lebensgeschichte den Sachargumenten ein anderes Gewicht verleiht. Das hat nichts zu tun mit säuselnder Betulichkeit, ewiger Vergangenheitsbewältigung oder einem Betörtsein von großen Schicksalen unserer Zeit. In die Klage von Stéphane Hessel muss man nicht einstimmen, hinter ihr steckt keine ausgeklügelte Ideologie. Nur gibt es Momente, in denen jeder, der denkt, Argumente zwar für falsch halten darf, ihnen aber trotzdem großzügig begegnen sollte: Weil es so etwas gibt wie eine biografische Wahrheit, die alles andere überstrahlt.

"Engagiert Euch!" Stéphane Hessel im Gespräch mit Gilles Vanderpooten, aus dem Französischen von Michael Kogon, Ullstein Verlag, 61 S., 3,99 Euro