Lloyd Riggins, Tänzer, Ballettmeister und Familienvater, eröffnet am Sonntag die 37. Hamburger Ballett-Tage . Eine Begegnung.

Hamburg. Als er die Tür öffnet, scheint kurz alles an ihm blass, die Haare, die Haut, sein Körper. Er trägt ein weißes Hemd und hellblaue Jeans, im Flur ist es dunkel, nur aus seinem Wohnzimmer strömt das Licht, als wäre das dort seine Bühne und dieser Flur nur für Zuschauer. Und dann tritt man über die Schwelle. Das Geschrei der Kinder ist ohrenbetäubend. "Vianne, Oliver, sagt ihr kurz Guten Tag?" Ein sehr frommer Wunsch ist das, natürlich haben Vianne und Oliver gerade Besseres zu tun. Und ihr Vater steht da, mitten in seiner Wohnung in Eppendorf, und rauft sich die Haare. Wenn er jetzt in einem Supermarkt stünde, einen Einkaufskorb mit Windeln und Müsli in der Hand, dann würde man ihn vorlassen - diesen eiligen Mann mit der schwarzen Aktentasche, die er seit Monaten bei sich trägt, wohin er auch geht. Darin ist Mahlers 10. Sinfonie.

Denn seit ein paar Monaten ist Lloyd Riggins nicht nur Lloyd Riggins, was in diesem Fall bedeutet: Tänzer, Ehemann, Vater, Ballettmeister, Erster Solist und Träger des Prix Benois de la Danse, der Oscar-Trophäe in der Welt des Balletts. Er ist zudem auch Gustav Mahler. Das ist die Rolle, die er tanzt diesen Sonntag, bei der Welturaufführung des neuen Neumeier-Balletts "Purgatorio" - ein Stück über die schwierige Liebe Mahlers zu seiner Frau, das gleichzeitig die 37. Hamburger Ballett-Tage eröffnet.

Seit Monaten hat sich Lloyd Riggins auf diesen Moment vorbereitet. Dass er die Rolle bekommen hat, hat ihn selbst überrascht; im Herbst wird Riggins 42, ein Alter, in dem der Abschied von der Bühne immer konkreter wird. Seit 22 Jahren ist Riggins Solist, seit 20 Jahren ist er mit der Tänzerin Niurka Moredo verheiratet. So viele Themen dieses Balletts haben mit seinem eigenen Leben zu tun. "Mahler und ich, wir sind beide Künstler und Familienväter, und wir lieben eine Frau, die auch Künstlerin ist." Alma Schindler war 22 und selbst Komponistin, als sie Gustav Mahler 1902 heiratete. Ihre Lieder, hat John Neumeier gesagt, geben einen tiefen Einblick in ihre Gefühlswelt. "Man hat den Eindruck, dass sie in einer Art Vorahnung Dinge geschrieben hat, die später tatsächlich eingetroffen sind. Sie spiegeln die Frustration, ihre Sehnsucht, vor allem in dem Lied ,Kennst du meine Nächte?'." Denn Mahler, ganz Mann seiner Zeit, verbot Alma ihre schöpferische Arbeit - sie hatte die Frau an seiner Seite zu sein. Während einer Kur traf sie 1910 den Architekten Walter Gropius. Und betrog mit ihm ihren Mann. Gustav Mahler wäre daran fast zerbrochen. All sein Leid und die Liebe packte er in die 10. Sinfonie, es war seine letzte, sie besteht nur aus Fragmenten.

"Allein die Vorstellung, ich hätte Niurka verboten zu tanzen, weil sie mich heiratet ...", sagt Lloyd Riggins, es ist inzwischen früher Nachmittag. Er sitzt in einem Konferenzraum der Staatsoper, in wenigen Minuten beginnen die Proben für "Purgatorio". Sie werden bis spät in den Abend dauern. Den Vormittag hat er mit seiner Frau und den Kindern verbracht, mittags waren sie beim Kinderarzt, dann schnell zurück in die Wohnung, die Notenmappe geschnappt, zur Staatsoper gefahren.

Nun fahren seine Finger die Notenlinien entlang, die ein Requisiteur in tagelanger Handarbeit erstellt hat. Es ist die Kopie eines Original-Faksimiles aus den 30er-Jahren, das John Neumeier gehört. "Schau hier", sagt Riggins, "da sieht es aus, als wenn er seine Noten auf das Papier gebrüllt hätte, und hier, da ist er wieder ganz klein, ganz leise". An manchen Stellen hat Mahler kleine Sätze auf die Partitur geschrieben. "Warum hast du mich verlassen", steht da an einer Stelle und ganz am Ende des Fragments ein einziges Wort: "Almschi!" So nannte Gustav Mahler seine Frau. Riggins schaut lang auf dieses Wort.

Tänzer haben immer die Wahl. Sie können wochenlang Bücher lesen und Filme schauen, um sich mit der Rolle zu befassen, die sie bald auf der Bühne verkörpern. Oder sie betreten das Drahtseil ohne Netz, ohne doppelten Boden. Lloyd Riggins hat genau das getan. Er hat sich von seinen Gefühlen leiten lassen. Und John Neumeier. Hat die Lieder Alma Mahlers gehört und die 10. Sinfonie, hat Wochen an seiner Rolle gefeilt, hat die Partituren gelesen, die er immer dabeihatte. Dann ist er nach Hause gefahren. Zu seiner Frau, die selbst Ballettmeisterin ist, und seinen zwei Kindern. Was er ohne sie heute wäre? "Eine schreckliche Diva", sagt Lloyd Riggins. "Oder vielleicht auch einfach nur nichts."

"Purgatorio" , ein Ballett von John Neumeier mit Lloyd Riggins (Gustav Mahler), Hélène Bouchet (Alma Mahler), Thiago Bordin (Walter Gropius). Die Premiere ist ausverkauft. Weitere Vorstellungen am 28.6. und 3.7., www.hamburgballett.de