Streetart ist bunt, wild und überall. Wer sie entdeckt, den lässt sie meist nicht mehr los. Hamburgerin Anna Kuhnt fotografiert die Kunststücke.

Hamburg. Das kleine Stück Kunst hielt nur vier Tage, dann war es verschwunden. In einem Kinderwagen oder einer Jackentasche, klein genug war es schließlich; und ohne die Lupe vor dem Stein hätte man den Schriftzug auch gar nicht lesen können: "Ich bin nur ein kleines Stück Kunst", stand dort in winzigen Buchstaben.

Anna Kuhnt hatte die Installation noch rechtzeitig entdeckt, sie hing an einem Laternenpfahl in der Susannenstraße. Nun steht sie davor und sagt: "Schade eigentlich." Obwohl, genau genommen steht Anna Kuhnt gar nicht an der Susannenstraße. In den Koordinaten ihrer Welt müsste es heißen: gut 100 Meter östlich der Gipsskulpturen, die jemand auf die Unterführung an der Lippmannstraße gestellt hat - kleine Gestalten mit Gnubbelnase und freundlichen Gesichtern. Und 300 Meter nördlich der Kachel, die ein französischer Künstler vorigen Sommer an die Wand des ehemaligen Studiokinos geklebt hat und die sie sehr gerne mag.

Die Stadt mit den Augen von Anna Kuhnt sehen - das würde man auch gerne können. Doch mit Streetart ist es wie mit dem Pilzesuchen: Am Anfang sieht man gar keine und mit der Zeit dann immer mehr. Man entwickelt einen Blick dafür. "Dann ahnt man schon: Hinter der Ecke dort könnte etwas sein. Oder auf diesem Stromkasten."

Anna Kuhnt sammelt Streetart. Zumindest die Erinnerung daran. Sooft sie kann, läuft sie durch Hamburg und fotografiert die Kunst, die sie sieht; auf ihrem Blog, www.streetart-hamburg.net , stellt sie die Fotos online. Entstanden ist so die virtuelle Galerie einer Kunstform, die so vergänglich ist, dass man manchmal mit dem Dokumentieren gar nicht hinterherkommt. Für die 32-jährige Hamburgerin ist das ein Grund, sie faszinierend zu finden. "Um Streetart zu verstehen, braucht man kein Kunstexperte zu sein, bin ich selbst ja auch nicht. Ich mag einfach, dass sie meine Wahrnehmung bricht, sie zurückholt, durch sie wird ein Weg, den ich schon 1000-mal gegangen bin, plötzlich wieder neu und aufregend." So aufregend, dass sie aus ihrer Leidenschaft ein Spiel gemacht hat. Zwillingsspiel heißt das Memory, es enthält Motive aus Hamburg, vor Kurzem ist ein zweites in Schwarz-Weiß erschienen. Das erste hatte Anna Kuhnt vor zwei Jahren quasi in Heimarbeit erstellt, da war gerade ihr erster Sohn zur Welt gekommen. Inzwischen sind es zwei, und ihre Memoryidee trägt sich finanziell. Ihren Beruf als Buchhändlerin hat sie fürs Erste aufgegeben. Sie ist nun Mutter und arbeitet nebenbei an ihren Projekten.

Ihre Ursprünge hat Streetart in der Graffiti-Szene der 70er-Jahre, doch inzwischen trennt die beiden Bewegungen mehr, als sie vereint (siehe Kasten). Und die Künstler selbst? Haben es so gut wie geschafft. Viele können heute von ihrer Kunst leben, die international gezeigt und verkauft wird. Sie ist in Galerien und Museen zu sehen, ist Teil einer neuen globalen Kunstbewegung. "Streetart ist eine Form der zeitgenössischen Kunst, die dabei ist, sich zu etablieren", sagt Heike Derwanz, die 30-Jährige promoviert an der Uni Paderborn. In ihrer Doktorarbeit beschäftigt sie sich vor allem mit den Lebensumständen der Künstler, von denen viele noch immer im Untergrund arbeiten.

Streetartkünstler sind die Schmuddelkinder unserer Zeit. Sie haben ihren eigenen Willen, sind ungezogen und kreativ; und wenn die Nächte lang und dunkel sind, wird die Stadt zu ihrem Spielplatz. Dann blättern sie in Straßenseiten und lesen Häuserzeilen, setzen wilde Tiere in Türrahmen aus und lassen Seetaucher in Häusermeere stürzen. Natürlich kopfüber.

Die Streetart-Galerie der Abendblatt-Leser

Dem Material, das sie benutzen, sind keine Grenzen gesetzt: ein ausrangierter Duftbaum, alte CDs; Ton, Holz, Styropor, gesprayte Collagen oder selbst gestaltete Sticker, bemalte Kacheln oder auf den Bürgersteig gepinselte Köpfe. Jeder Briefkasten wird zum Kunstwerk - weil er plötzlich ein Gesicht hat. Streetartkünstler, das muss man ihnen lassen, haben eine Menge Humor. Die meisten von ihnen wollen eigentlich nur spielen. Und doch bleiben sie fast immer anonym. Ihre Kunst ist für den Gesetzgeber Vandalismus. Bis zu 5000 Euro Strafe drohen, wenn die Polizei sie erwischt.

Nicht einmal ihren Künstlernamen geben sie preis - zur Sicherheit. Drei sind insgesamt zum Interview gekommen, ein Treffpunkt in Planten un Blomen, am Wasser, die Fontänen schlucken den Schall ihrer Worte. "Wir sind Künstler, und wir suchen uns die Räume, in denen wir sie schaffen", sagt Art Rural (Künstlername von der Redaktion geändert). Was sie sagen, klingt selbstbewusst, manchmal trotzig, aber immer voller Faszination. "Es ist halt auch eine Sucht", sagt einer der Künstler. "Alleine das Adrenalin, wenn du irgendwo in 15 Meter Höhe auf einem Dach stehst und etwas streichst, und unter dir bewegt sich die Welt, dann bist du da oben ganz mit dir allein, ein absoluter Höhepunkt ist das, und den kann dir auch keiner mehr nehmen."

Art Rural nickt. Er ist jung, 26, seine Kunst hängt an Fassaden in Hamburg, Berlin oder Paris. Es sind Werke, vor denen man stehen bleibt, weil sie aufwühlen. Auf vielen sieht man Gesichter, die ineinander schwimmen, man weiß nicht genau, ob sie lachen oder zornig sind. Was sie sagen? Vielleicht: Streetart ist die einzige Möglichkeit. Obwohl Art Rural den Begriff nicht gern mag. Er nennt es: die Umgestaltung des urbanen Raums. "Und das alles lässt dich nicht mehr los, wenn du es einmal entdeckt hast. Es zählt, für dich, für die anderen Künstler, für die Stadt, in der du lebst."

Tatsächlich findet sich auch an den Wänden des Gängeviertels Streetart, vieles davon von ortsfremden Künstlern - dort, wo es nicht die Bausubstanz schädigt. Als Hamburger Künstler vor knapp einem Jahr das Gängeviertel besetzten, verknüpften sie diese Aktion bewusst mit der Frage, wer das eigentlich ist, die Stadt, und für wen sie da sein sollte. "Recht auf Stadt" heißt das breite Bündnis von Bürgern, das sich diese Frage zum Thema gemacht hat. Ein Recht, das sich auch Streetartkünstler nehmen. "Streetart als Kunstform thematisiert den öffentlichen Raum, sie fragt: Was passiert mit meiner Stadt?", sagt Derwanz. "Viele Künstler beschäftigen sich mit sozialkritischen Themen wie der Gentrifizierung, oft sind sie ja selbst davon betroffen." In jeder Großstadt findet man inzwischen Freiluftgalerien, mal legal, mal illegal. In Berlin zieren derzeit die Konterfeis des A-Teams Dutzende Bürgersteige - eine Marketingaktion der Filmfirma, heute ist Kinostart des Blockbusters.

Der erste eigene Streetartmoment muss so spektakulär aber gar nicht sein. Da reicht auch das Mädchen mit dem lustigen Haarschnitt, das im Winter vom Frappantgebäude lächelte, darunter der Satz: "Du hast alles richtig gemacht." Aber wenn man selbst gerade einen lieben Menschen verloren hat und seinen Job, dann reicht das völlig, um innezuhalten und diesen Moment herauszulösen aus einem eisgrauen Winter, der plötzlich bunter wird, leicht - und irgendwie besonders.

Die Streetart-Galerie der Abendblatt-Leser