Aus einer Zeit, als der Diskursrock noch mit der Post kam und Fanzines über Bands wie Tocotronic und Die Regierung handkopiert berichteten.

Hamburg. Ganz weit hinten im Schrank, hinter den alten Fotos aus New York und Neuseeland und hinter den noch älteren Briefen, lagern zwei verwollmauste Holzschuber gefüllt mit Musik-Zeitschriften und Artikeln, teils handkopiert, aus einer Zeit, als das Internet noch nicht die große Ausspuckmaschine war, die es heute ist, sondern lediglich eine Ahnung.

Musik, die gute, kritische, verstörende, kam damals, Anfang und Mitte der 90er, aus Hamburg. Songs wie "Letztes Jahr im Sommer" von Tocotronic zum Beispiel, zu denen sich der Kopf nicht nur vortrefflich in den Autofahrtwind halten, sondern auch anregen ließ. Titel wie "Hier entsteht ein Super Markt" von Schorsch Kamerun, die gut und gerne den Soziologiegrundkurs ersetzten. Und Lieder wie "Provisorisch" von Die Braut Haut Ins Auge, die die ganze Hyperflexibilität der heutigen Welt vorwegnahmen.

Mit der besten Freundin war die doppelte Luftgitarre zum funky Solo in "Universal Tellerwäscher" der Sterne ein Muss. Und bei Cpt. Kirk &. und vor allem Blumfeld um Superschlaumeier Jochen Distelmeyer blieb ohnehin kein Stein auf dem anderen. Jedes Stück ein emotionales und intellektuelles Erdbeben. Klingt anstrengend. War es auch. Selbst in der Beschaffung.

Die Platten kamen damals via Spezialversand der Hamburger Plattenfirma L'Age D'Or mit der gelben Post selbst bis in entlegenste süddeutsche Studentenstädtchen. Ebenso die Printerzeugnisse, Fanzines genannt, mit so schönen Namen wie "Komm küssen", die sich auf diese Hirnerschütterungsmusik spezialisiert hatten, auf Die Regierung und Kolossale Jugend, auf Bernd Begemann und Rocko Schamoni.

In einem dieser schwarz-weißen, in engem Schriftbild zusammengetackerten Hefte, dem "Harakiri" (Ausgabe 6, Winter 96/97), heißt es: "Hamburger Schule, ein Begriff geht um die Welt - und durch die Promoabteilungen der großen Plattenfirmen." Im anschließenden Interview hatten die Betreiber des L'Age D'Or-Labels jedoch ihre ganz eigenen Assoziationen zu dieser Genre-Schublade. Von "Hamburger Schwule" bis "Hamburger Stuhlgang". Letztlich wurde aber doch ernsthaft (und ausgiebig) über Orientierungshilfe versus Ausverkauf durch den bösen, schönen, plakativen Begriff diskutiert. Und über die Abgrenzung zum ebenfalls kursierenden Etikett Diskursrock. Klingt anstrengend. War es auch. Historisch zugeschrieben wird die Formulierung jedenfalls Thomas Groß, einst Redakteur der "taz", der mit der Nähe zur Frankfurter Schule auch auf den Verkopfungsgrad der Musik hinweisen wollte.

Fest steht: Das Bild vom asymmetrischen Haarschnitt an enger Trainingsjacke und Cordhose ist unweigerlich mit der Hamburger Schule, vor allem mit Tocotronic verbunden. Zusammen mit dem unkaputtbaren Kommentar des Trios: "Ich bin neu in der Hamburger Schule/Und lern kein Griechisch und kein Latein/Und trotzdem scheint mir die Hamburger Schule/'ne Eliteschule zu sein."

Thees Uhlmann, der Tocotronic einst auf Tour begleitete und darüber ein Buch schrieb, wird mit seiner Band Tomte auch gerne dem hanseatischen Pop-Pennälertum zugeordnet. Doch mit dem Wissen wächst der Zweifel. Und die Holzschuber im Schrank wissen es besser. Sie enthalten kein Tomte, zumindest nicht willentlich. Wenn Uhlmann, aktuell Wahl-Berliner, aber fragt "Wie sieht's aus in Hamburg?" hören wir uns solche Oden schon gerne an.

Übrigens: In der Holzschuber-Sammlung findet sich dann doch noch ein einziger Ausdruck aus dem Internet. Vom Dezember 1996. Mit Lochstreifen an den Seiten des Papierbogens.

Tomte Do 5.8., 20.00, Uebel & Gefährlich (U Feldstraße), Feldstr. 66, Tickets 20,-; www.uebelundgefaehrlich.com

Die Sterne Sa 14.8., 18.30, Dockville (S Wilhelmsburg + Shuttlebus), Reiherstieg, Tageskarte 44,-, Festivalticket 69,- im Vvk., www.dockville.de

Tocotronic Sa 11.9., 19.00, Stadtpark (S Alte Wöhr), Saarlandstraße/Ecke Jahnring, Tickets zu 31,40 im Vvk., www.tocotronic.de

Jochen Distelmeyer Do 23.9., Reeperbahn-Festival, www.jochendistelmeyer.de