Kassetten werden kaum noch produziert, mit dem altmodischen Tonträger verabschiedet sich auch ein romantisches Technik-Zeitalter.

Hamburg. In Kisten verpackt, staubig und lieblos auf dem Dachboden, in kümmerlicher Position gebettet. Ein Abspielgerät für sie gibt es nicht mehr in diesem Haus, und deswegen liegt sie ungehört und unerkannt hier, beleidigt und entsorgt. So dürfte es der guten, alten Kassette, dieser Untoten unter den Tonträgern, gehen: schlecht. Untot ist sie, weil sie ein Schattendasein fristet unter all den Hochleistungsmaschinen, die im dritten Jahrtausend nach Christus für die Beschallung der Menschenkinder sorgen. Wer hört noch Kassette? Und wer produziert die eigentlich noch? Bald niemand mehr, denn am 1. Juli schließt mit dem Hersteller Pallas im niedersächsischen Diepholz eine der letzten großen MC-Manufakturen. Das Ende der Kassette ist nah.

Und das wird bei allen, die über 25 sind, mindestens für nostalgische Anwandlungen sorgen. Je jünger sie sind, desto weniger werden sie allerdings geneigt sein, eine Vermisstenanzeige aufzugeben. Zu gestrig erscheinen die Magnetbänder, die über zwei Räder in einem Gehäuse aus Plastik laufen. Drei Millionen Kassetten wurden 2009 in Deutschland immerhin verkauft. 1991, dem Rekordjahr, waren es 78 Millionen. So ist das, wenn die Technik voranschreitet: Aus Bestsellern werden Nischenprodukte. In ihren besten Zeiten war die Kassette eine kulturelle Hervorbringung mit Alleinstellungsmerkmal, das Missing Link, das es Musikfans ermöglichte, Musik zu kopieren und vor allem: mitzunehmen. Die Kassette, ursprünglich gedacht für die Büroarbeit mit Diktiergeräten, sorgte für Mobilität. Sie ließ sich transportieren, weshalb die Plattenfirmen seit 1965 auch MCs verkauften.

Wie seltsam die veraltete Technik im Rückblick wirkt, da ist es wie mit der Mode; Hosen mit Schlag sind heute beinahe albern. Aber von Zeit zu Zeit kommen sie wieder. Anders als bei Beinkleidern und Vinylplatten wird es eine Renaissance der Kassette wohl kaum geben. Sie hat, und da herrscht Einigkeit in der Phonoindustrie und bei den Nutzern, schlicht keine Daseinsberechtigung mehr. Zu schlecht, viel zu schlecht ist ihre Qualität.

Und so ist es höchstens das emotionale Befinden einer bestimmten Altersgruppe, das sich im Trauergesang artikuliert. Soziologen sprechen von "Technikgenerationen", in denen bestimmte Alterskohorten nach ihrem Weltbild und ihren Gewohnheiten modelliert werden. Der mit der Kassette Aufgewachsene unterscheidet sich fundamental von dem MP3-Player-Kid der Nullerjahre. Allein schon im Zeitmanagement. Wo der PC-versierte Mensch anno 2010 sich einen Mix mit wenigen Mausklicks zusammenstellt, bespielte Vaddern früher vor der Abreise und quälend langen Urlaubsautoreise nach Kroatien stundenlang Kassetten, indem er seine Lieblings-LPs kopierte. Die Zahl derer, die Adriano Celentanos "Azzurro" im Auto-Kassettendeck hörten, wenn es über den Brenner nach Italien ging, ist Legion. Überhaupt ist die Geschichte der MCs, die von Liebhabern im Hinblick auf ihre Spieldauer auch "90er" genannt wurden, natürlich eng verbunden mit der schönen Erfindung des Musikmixes. Jugenderinnerungen: Wie man hoch konzentriert und reaktionsschnell vor der Stereoanlage saß und aufs Knöpfchen hieb, damit bloß nicht der Moderator von NDR 2 oder SWF 3 später auf dem Band zu hören war, wo doch gefälligst nur Depeche Mode, a-ha und U2 hinsollten. Wer sich nicht alle CDs kaufen konnte, weil das Taschengeld nicht reichte, dem stand nicht YouTube zur Verfügung. YouTube ist die Jukebox aller, und sie steht immer zur Verfügung.

Die süße Krankheit Gestern, sie erzählt auch die Geschichte der Kassettenmädchen. Das sind die jungen Damen, denen man sich mithilfe von Kassettenmixen näherte (mit liebevoll gestalteten Covern). Technik formt den Lebensalltag und das Bewusstsein von jungen Menschen: Heute sind sie immer mobil, Musik haben sie immer dabei. Sie tragen sie gigabyteweise auf ihren iPods mit sich herum.

Walkman? Kassette? Was geht da drauf, 20 Lieder? Pfff. Wo heute Musiksammlungen ohnehin zunehmend digitalisiert sind (oder nie physisch waren!), hat manch einer einen Schatz von mehreren Tausend Songs immer am Mann. Es ist alles ein Wunder, und der Kulturpessimist spielt natürlich nur seine Rolle, wenn er in der romantischen Haltung dessen verharrt, der die altmodischen Verengungen und Einschränkungen der Vergangenheit preist. Vielleicht ist früher aber, in einem anderen Zeitalter, Musik wirklich mehr wert gewesen: Ihre Verbreitung wurde durch technische Unmöglichkeiten verknappt. Die technikphilosophischen Betrachtungen der Soziologen sind unbedingt zu unterstreichen: Die Gesellschaft spiegelt sich in den von ihr benutzten Apparaten. Die postmoderne Lässigkeit im Umgang mit Musik (deren unbegrenzte Verfügbarkeit) ist etwas ganz anderes als die Geduld, mit der auf eine Radiosendung gewartet wird, den Finger drückbereit auf der Recordtaste.

Und der Langmut, mit dem leiernde Kassetten, die Verzweiflung, mit der gerissene Bänder ertragen wurden und geschrottete Autoradios, in deren Deck sich die Kassette verkantet hat. Die Liebe, mit der kaputte Bänder wieder zusammengeflickt wurden, und der Humor, mit dem der allfällige Bandsalat betrachtet wurde. Es genügt, die Mechanik einer Kassette zu betrachten, die in einem wie Tupperware anmutenden Gerät abgespielt wird: Jede Umdrehung ist harte Arbeit. Es schleift in der Stereoanlage. Wie anders der luftig-leichte MP3-Player, der kaum größer ist als ein Daumennagel und auf dem oft genug der Name des beliebtesten Herstellers, Apple, steht. Hochgezüchtete Technik.

Wie komfortabel dieser Apfel ist, wie effizient. Und wie faul.