70.000 Musikfans feierten drei Tage feuchtfröhlich in Scheeßel ihre Lieblingsgruppen. Eine musikalische Bilanz in fünf Schwerpunkten.

Scheeßel. Großes Gedränge und Geschiebe. Der bullige Ordner mit dem leuchtend orangefarbenen "Security"-Leibchen blockiert den Eingang zur Zeltbühne wie ein unüberwindlicher Rammbock. Wer The Temper Trap sehen will, muss warten. Und das sind viele. Als der Eingang freigegeben wird, drängt die Masse ins Zelt, um sich einen guten Platz zu sichern - für eine Gruppe, die erst ein Album veröffentlicht hat und beim Hurricane-Festival nur eine Newcomerband unter vielen ist. Als das Quartett aus Melbourne loslegt, singen Dutzende textsicher und emphatisch mit. Der Festivalbesucher von heute kennt sich aus. Er ist informiert und schaut sich gezielt Bands an, die in seinem musikalischen Biotop als Geheimtipp gehandelt werden. Das feucht-fröhliche Happening ist willkommener Nebeneffekt.

Ein neuer, ungemein ekstatischer Powerpop dominiert das Programm auf der roten Zeltbühne. Das studentische Publikum goutiert hier echte Stimmungskanonen wie die Kölner Band Timid Tiger um den indischen Sänger Keshav PuruShotham, der die Menge mit Goldbrille und in knallengen Hotpants hüpfend schon mal mit Refrains aus einem Bollywoodfilm in Ekstase singt. Oder es schwingt die Hüften zu den catchy Melodien und Rhythmen von drei Studenten aus Nordirland, die sich Two Door Cinema Club nennen. Sie verstehen sich auf Musik, die geeignet ist, jede Herzensdame im Studentenwohnheim zu bezirzen. Schon zur Mittagszeit locken We Are Scientists mit ihrem poppigen, ironisch-kauzigen Rock fast 20 000 Fans vor die blaue Bühne. Deutlich mehr als am frühen Abend bei den in die Jahre gekommenen deutschen Indie-Recken von Element Of Crime. Eine kleine Völkerwanderung setzt in Richtung der Zeltplätze ein: Poet Sven Regener verliert das Duell gegen die Grillwurst.

Sperrig für den Festivalrahmen ist auch die Musik von Florence & The Machine. Barfuß im blauen Feenfummel schwebt Florence Welch, die Sängerin mit dem klassisch schönen Gesicht und den feuerroten Haaren, über die Bühne. Die 23-jährige Londonerin ist die außergewöhnlichste Künstlerin einer neuen weiblichen Popwelle, die aus dem Vereinigten Königreich auf den Kontinent herüberschwappt. Doch es fällt ihr nicht so leicht, das magische Band zum Publikum zu knüpfen. Zu verstiegen sind ihre Texte, zu ausgefeilt ihre Songs. Das Publikum scheint neugierig, die Resonanz bleibt verhalten. Da haben Marina & The Diamonds und La Roux es einfacher. Das bildschöne Mädchen aus Wales und die flammenhaarige Göre aus London bringen die Meute innerhalb von Sekunden zum Tanzen. Bei so einem Festival entlädt sich eben auch der Drang nach Bewegung, für kontemplative Versenkung ist es nicht der richtige Ort.

Vom Rand her mitten ins Schwarze getroffen

Große Wagnisse sind im diesjährigen Hurricane-Programm nicht auszumachen. Da riskiert ein Festival wie das britische Glastonbury mehr, wenn es einen Country-Star wie Willie Nelson und eine 65 Jahre alte Beat-Legende wie Ray Davies mit jungen Bands wie Dead Weather und The National aufeinanderprallen lässt. Immerhin spielen Freitagnacht The Specials auf, Ende der 70er-Jahre neben Madness die wichtigste Ska-Band Englands. Die Insel tanzte damals zu den Songs mit politischen Texten auf ausgelassenen Rave-Partys. Im vergangenen Jahr haben die Sänger Terry Hall und Neville Staple die Specials reformiert. Ein Verfallsdatum gibt es für die zehnköpfige Combo nicht. Abseits ausgetretener Pop-Pfade bewegen sich auch das norwegische Frauen-Quartett Katzenjammer mit seinen lustigen Folklore-Walzern und die bayerische Kapelle La BrassBanda. Deren zündende Blasmusik begeistert auch Leute, die musikalisch aufs Oktoberfest gut verzichten können.

Mögen die Musik-Nerds abseits ausgetretener Pfade wandeln, auf der Green Stage dominiert das Standard-Programm der Krachfraktion. Die Berliner Rocker Beatsteaks und ihre kanadischen Kollegen Billy Talent aus Toronto stehen in schöner Regelmäßigkeit im Fettgedruckten auf den Hurricane-Plakaten. Wer diese Bands bucht, geht auf Nummer sicher und darf sich auf ein mehrere Zehntausend Köpfe starkes Party-Knäuel vor der Bühne freuen, während Beatsteaks-Sänger Arnim Teutoburg-Weiss und Billy-Talent-Frontmann Ben Kowalewicz als Zeremonienmeister am Bühnenrand die Mitsing-Chöre dirigieren. Der Staub, den die Masse aufwirbelt, steigt weit in den Himmel. Auch wieder tobend am Bühnenrand zu sehen ist Skin, die katzengleiche Sängerin der wiedervereinten Crossover-Rocker Skunk Anansie. Doch während ein eher älteres Publikum zu "Weak", "Selling Jesus" und weiteren 90er-Jahre-Hits mit den Füßen wippt, stehen schon die ersten Fans der aktuellen Krachgeneration vor der weißen Bühne an. Dort heißen die neuen Helden Frittenbude, drei Elektro-Punk-Derwische aus München. Schon nach drei Songs ist das Getümmel vor und im Bühnenzelt nicht mehr kontrollierbar, das Konzert wird unter wütenden Protesten der Fans abgebrochen. Vielleicht hätten Frittenbude und Skunk Anansie ihre Bühnen tauschen sollen.

Die Wiederauferstehung der elektronischen Tristesse Royale

Die Krachfraktion ist das eine. Das andere sind Sounds, die eine Menge Strom benötigen. Bands wie LCD Soundsystem verhelfen ihm mit dynamischem Elektropunk zu neuem Festival-Glanz. Und der färbt auch auf ein paar Dinosaurier ab. Zur Feier der Rückkehr des Elektro-Pop gesellt sich am Sonntag Faithless. Das Londoner Trio, das mit "Salva Mea" und "Insomnia" Anfang der 90er-Jahre große Hits landete, ist nach vier Jahren Funkstille mit "The Dance" zurück. Die Kombination aus kritischen Texten und Disco-Rhythmen funktioniert auch auf dem Rasen. Die Bässe wummern, die Melodien schleppen sich monoton und majestätisch dahin. Headliner Massive Attack lädt am Sonnabend zur nachtblauen Geisterstunde. Der schon dem Untergang geweihte Trip-Hop, spätestens hier hat er sich mit der Wucht eines bretternden Postrock aus dem Grab geschaufelt. Robert del Naja und Grant Marshall teilen sich das Mikrofon im Lichtgewitter mit Roots-Reggae-Legende Horace Andy, der großartigen Martina Topley-Bird (Ex-Tricky) und Deborah Miller, die dem Klassiker "Unfinished Sympathy" zur Gänsehauthymne verhilft. Neben den Klassikern zünden Songs des aktuellen Erfolgsalbums "Heligoland", wie das berückende "Atlas Air".

Nach dem Konzert bewegt sich die Menge in einer schweigenden Prozession zu den Zeltplätzen. Bewegt. Beglückt. Es geht hier schließlich um die Musik. Und um die genießerische Stille danach. Um nichts anderes.