Beim “Caligula“-Gastspiel des Thalia-Theaters in Shanghai verletzt sich Schauspieler Mirco Kreibich. Er kippt mit einem Scheinwerfer um.

Shanghai. Sie waren sich schon vor dem Abflug sicher: "An diese Reise werden wir noch lange denken." Damit hatten die sechs jungen Schauspieler des Thalia-Theaters, die zurzeit mit einem insgesamt 15-köpfigen Team zu Besuch in der Partnerstadt Shanghai sind, eigentlich die Chance gemeint, vor einem ganz anderen Publikum zu aufzutreten. Mit ihrer Inszenierung "Caligula" wollten sie den Chinesen ihre Art des Theatermachens nahebringen. Und nebenbei die 18-Millionen-Menschen-Metropole erkunden, in der derzeit die größte Weltausstellung der Expo-Geschichte läuft.

Doch schon am zweiten Vorstellungsabend bekommt ihr Aufenthalt einen bitteren Beigeschmack: Gegen Ende des Stückes muss die Aufführung abgekürzt werden. Der Schauspieler Mirco Kreibich, der in Albert Camus' Stück über den wahnsinnigen römischen Kaiser die Titelrolle spielt, springt auf einen stehenden Schweinwerfer, kippt mit ihm um - und wird nach rund 15 Minuten weiterer Spielzeit ins Krankenhaus gefahren.

Die Diagnose des chinesischen Arztes: "Zweifacher Bruch des Wangenknochens."

Dass Mirco Kreibich sich auf der Bühne mit Körper und Seele einer Rolle verschreibt und dabei bis an die Schmerzgrenze geht, konnten Zuschauer bereits in der vergangenen Saison am Deutschen Theater in Berlin erleben. Damals zerschmetterte er als Brechts "Baal" Glasflaschen, boxte mit der Faust in die Scherben und schnitt sich den kleinen Finger bis auf den Knochen auf.

Im Shanghai Dramatic Arts Center bemerken zunächst nur wenige der knapp 200 Zuschauer den Bühnenunfall, konzentriert versuchen sie, dem gesamten Handlungsgeschehen zu folgen. Denn die Schauspieler sprechen vor allem Deutsch. Das Team um die Regisseurin Jette Steckel hat aber eine Dolmetscherin in das Stück eingebaut, die mit auf der Bühne sitzt, das Gesprochene in Kurzform in chinesische Schriftzeichen umwandelt und an die kahle Wand projiziert.

Hier hängen auch Fotokopien von menschlichen Gesichtern. Gesichter, die sich im Publikum wiederfinden: Mirco Kreibich hat Zuschauer - wie auch in Hamburg - vor der Vorstellung aufgefordert, ihre Gesichter auf einem Fotokopierer scannen zu lassen. "Wir waren gespannt, wie das chinesische Publikum reagiert", sagt der 27-jährige Schauspieler. "Schließlich werden ihre Bilder in die Totengalerie des mordenden Caligulas aufgenommen."

Dementsprechend überrascht und neugierig wandern die Zuschauerblicke von den Copy-Porträts über die Schriftzeichen zu den Schauspielern und wieder zurück. Nicht jede Textstelle kann übersetzt werden, vieles bleibt Interpretationssache. Entschlüsseln muss das Publikum auch die Körpersprache der ausländischen Schauspieler. Keine ganz einfache Aufgabe.

Wie unterschiedlich Körpersignale je nach Kultur geprägt sein können, hatte der mitgereiste Thalia-Intendant Joachim Lux - der übrigens nicht auf dem Foto zu sehen ist, weil er wegen eines weiteren möglichen kulturellen Austausches nach Beijing geflogen war - selbst morgens im Hotel bemerkt. "Mit der für uns selbstverständlichen Zählweise bestellte ich Frühstückseier, doch die Kellnerin verstand meinen ausgestreckten Daumen und Zeigefinger anders. Sie brachte acht anstatt zwei Eier."

Die meisten Zuschauer im Dramatic Arts Center scheinen an diesem Abend gerade von der Fremdheit begeistert zu sein - einige verlassen die Vorführung aber auch frühzeitig. "Wenngleich ich nicht jedes Detail verstehe, eröffnen mir westliche Aufführungen wie diese neue Denkweisen", sagt Luo Min, Journalistin eines lokalen Wirtschaftsmagazins. "Chinesische Theaterstücke sind meist eher lustig und geben dem Publikum eindeutige Lebensmodelle an die Hand." Bei "Caligula" hingegen würden Fragen ungeklärt bleiben. Zuschauer Zheng Dasheng, dem ein Freund das Stück empfohlen hatte, entgegnet: "Auch bei uns gibt es bereits innovatives Theater, aber diese Inszenierung ist wirklich erfrischend anders."

Zum Beifallklatschen kommen Luo Min, Zheng Dasheng und die anderen Zuschauer jedoch nur kurz. Die Thalia-Darsteller, die längst mehr als nur Kollegen sind, erscheinen nicht mehr auf der Bühne. Sie wollen Mirco Kreibich gemeinsam ins Krankenhaus begleiten. Dort steht nach rund eineinhalb Stunden fest: Die beiden weiteren geplanten Aufführungen müssen ausfallen. "Wir sehen die Reise dennoch positiv, immerhin haben wir zwei von vier Vorstellungen geben können", sagt der Intendant Joachim Lux. Und ergänzt: "Auch wir vom Theater sind eben nur Menschen."

Einen letzten Auftritt in Shanghai haben die fünf anderen Schauspieler - Franziska Hartmann, Julian Greis, Daniel Lommatzsch, Thomas Niehaus und Matthias Ziesing - aber noch am nächsten Tag. Im Hamburg-Haus auf der Expo präsentieren sie das Projekt "Große Freiheit, Shanghai" der Nachwuchsregisseurin Maria Ursprung, eine musikalische Hommage an Hamburg. Besonders gut kommt die mit Wasser gegurgelte Version von "La Paloma" an. Als die Darsteller dazu mit ihren Stimmen und Instrumenten typische Hamburg-Geräusche wie Schiffshupen, Möwengeschrei und Regen imitieren, lacht und klatscht das chinesische Publikum laut und anhaltend.

Zurück in Hamburg wird sich der verletzte Mirco Kreibich - der bislang nicht operiert wurde und seine Blessuren mit Eis kühlt - noch einmal gründlich untersuchen lassen. Damit er möglichst bald auf der Bühne wieder alles geben kann.