Dominik Graf macht aus der geheimen Ménage-à-trois des Großdichters Friedrich Schiller einen langen, leichten, traurigen Traum. Jetzt bringt er „Die geliebten Schwestern“ ins Kino. Eine Begegnung.

Es geht um Sekunden. Zwei Uhren ticken im Raum im dritten Stock von Haus 1 des Bayerischen Rundfunks in München-Freimann. Senffarbene Heizkörper, ein gewaltiger Rechnerschrank mit der etwas beängstigenden Aufschrift Isis 5000, fünf Bildschirme, ein kunstledernes Sofa, Tausende Regler, drei Menschen. Die Cutterin Susanne Hartmann rechnet, schiebt, schneidet. Zehn Minuten müssen raus aus „Smoke on the Water“, dem vierten Münchner „Polizeiruf 110“ von Dominik Graf.

Der 61-Jährige knorzt vor sich hin. Sitzt auf dem leise ächzenden Bürostuhl, runde Brille, die großen Hände überm Kopf, Wollsocken an den Füßen. Die Trekking-Schuhe trägt er offen, das Haar raspelkurz. Die weise Eule des neuen deutschen Polizeithrillers. Der grimmepreisgekrönteste lebende Regisseur des Landes. Der Mann, der mit „Im Angesicht des Verbrechens“ das einzige deutsche Fernsehfilmepos auf die Beine gestellt hat, das es mit internationalen Serien aufnehmen kann.

Ein Klassiker. Jetzt nagt er am Kragen seines schlabberigen grauen T-Shirts.

Als der Kleinadel nichts mehr hatte, außer der Liebe

Ein Hauch von Gewitter hängt im Raum. Matthias Brandt fährt Auto auf dem Bildschirm. Die Sonne scheint über ihm und über Bayern. Es geht um Politik und Gewalt. Vier Minuten sind schon raus aus „Smoke on the Water“. Irgendwann wird die Jugendschutzbeauftragte den Film zu sehen kriegen. Der ist Graf gern zu brutal (aus dem Grund wurde schon der erste grafsche „Polizeiruf“ nach der skandalösen Erstausstrahlung per Staatskanzlei-Dekret für immer in den späteren Abend verlegt). Die wird weiter kürzen. Graf ist dann nicht dabei. Hat Kindergeburtstag. Seine Tochter wird zwölf. Von „Smoke on the Water“ wird’s immerhin eine Director’s-Cut-Version auf DVD geben.

Aber wegen Gewalt und Polizei sind wir gar nicht hier. Auch eigentlich nicht wegen Fernsehen, der Gegenwart und der Politik. Wegen der Zeit schon. Vor allem aber wegen der Sprache und der Liebe. Und dem deutschen Kino und dem, was darin möglich ist. Oder eben nicht. Vor allem wegen Schiller sind wir hier. Friedrich Schiller.

Ein abgebrannter armer Poet, der eines feinen Sommertages anno 1788, alles ist sehr still, ins thüringische Rudolstadt kommt und plötzlich einem liebreizenden weiblichen Wesen von reichlich verarmtem Kleinadel gegenübersteht. Ein revolutionärer Moment. Der Moment der Liebe. Einer ganz besonderen, ganz besonders unmöglichen Liebe. Von ihr und was aus ihr wurde, was die Zeit, die gesellschaftlichen Gegebenheiten aus ihr machen, erzählt Graf in „Die geliebten Schwestern“, seinem neuen Kinofilm, zu dem er selbst das Drehbuch geschrieben hat zum ersten Mal seit Menschengedenken.

Kein Kostümschinken, kein Schillerfilm

Charlotte von Lengefeld heißt das 22 Jahre alte, für damalige Verhältnisse aber fast schon späte Mädchen. In der Entourage von Goethes Frau von Stein soll sie sich so teuer wie möglich verkaufen und meistbietend verheiraten. Eine Schwester hat sie, die ist unglücklich in einer Versorgungsehe gelandet, Caroline von Beulwitz.

Bald stehen sie – die beiden Schwestern und Schiller – in Grafs Film beisammen. Drei Habenichtse. In geometrischer Formation. In einem gleichschenkligen Dreieck. Gleich weit voneinander entfernt, sich liebend, auf Balance bedacht, sehnsüchtig, in ständiger Konversation der Hände, der Herzen, der Köpfe, der Münder. Grafs „Die geliebten Schwestern“ ist kein Film über Schiller, kein Biopic, kein Kostümfilm. Er ist viel mehr. Und er ist wieder mal eine ziemlich persönliche Angelegenheit. Dominik Graf kann gar nicht anders.

Susanne Hartmann macht Pause. Es gibt löslichen Kaffee. Man könnte noch eine Banane essen. Die Zeit läuft.

Das Leben ist eine Machbarkeitsstudie

Und Graf erzählt, dass Uschi Reisch, Bavaria-Produzentin, mit Graf seit der Filmhochschule bekannt, eines Tages mit der Rudolstädter Liebesgeschichte ankam. Wahrscheinlich, sagt er, der es im Licht-unter-den-Scheffel-Stellen zu einer gewissen Perfektion gebracht hat, war er nicht der erste, den Uschi Reisch gefragt hatte. Immerhin hatte Graf, dem man Kostümfilme nun nicht unbedingt zutraut, ja „schon einmal Pferde und Kutschen durchs Bild bewegt“. 2008 war das in „Das Gelübde“, einem Film über die Glaubenskrise des Schriftstellers Clemens von Brentano anno 1818.

Und Graf hatte ja, was er ganz gern tut, er ist unter seinen Kollegen des deutschen Kinos lebendigster Essayist, wieder was verkündet. Das Einzige, was ihn zu drehen überhaupt noch interessiere, seien Polizeifilme und Filme über den bourgeoisen Liebesdiskurs. Letzteres sind die „Geliebten Schwestern“. Über – in der Berlinale-Fassung gut drei, in der jetzigen Kinofassung gut zwei – Stunden. Der Liebesbienentanz der Lengefeld-Schwestern mit dem schwäbischen Dichterbrausekopf brauchte die Zeit (im Director’s Cut dauert er so lange wie eine Mini-Serie im Fernsehen). Denn die Geschichte verhandelt eben nicht nur einen Sommer, sondern 14 Jahre dreier Leben.

Sie spiegelt auch in die Tiefe einer geschichtlichen Bruchstelle. Es ist einen Sommer lang das Liebesspiel eines utopischen Moments. Einer Revolution der Gefühle am Vorabend der Französischen Revolution. Ein Moment, in dem die alten Regeln, die des Adels, klammheimlich abgedankt hatten, die neuen Regeln, die des Bürgertums, aber noch nicht galten. Diese Geschichtssekunde der Freiheit, die Schiller und seine geliebten Schwestern ergreifen, auszuleben versuchen, dieser freie Liebesdiskurs hat es ihm angetan. Einen Post-Nouvelle-Vague-Konversationsfilm hat er gemacht. Eine Machbarkeitsstudie der Liebe, die parallel zur politischen Machbarkeitsstudie der Französischen Revolution scheitert.

Wer wirklich liebt, schreibt Briefe

Die Revolution endet in Blut und Bürgerlichkeit. Die Liebe in Alltag und Bürgerlichkeit. Kam Graf seltsam bekannt vor. Träume, die sich in Blut verwandeln. Utopien, die in Bürgerlichkeit verholzen. Die Beziehungsdebatten zwischen den Rudolstädter Ziergärten anno 1788 und den Kreuzberger WG-Küchen seiner Generation, sagt er, haben sich nicht wesentlich unterschieden. Den Rückzug von der Utopie, der Revolution, ins Ästhetische, ins Private – gab’s wieder. Das macht die Figuren von Grafs Film über der Frauen Liebe und Leben an der Schwelle zum 19. Jahrhundert so lebendig, rückt sie so nah, ohne dass die Distanz geleugnet wird, die uns von ihnen trennt.

Die Geschichte brauchte einen anderen Rhythmus, ein anderes Tempo, als man es von ihm bis dahin gewohnt war. Er hat’s damals für den deutschen Film erfunden, die Hatz, den schnellen Schnitt, die Geschwindigkeit. Seitdem es alle machen, gerade auch im Kino, alle es gleich machen, alles gleich wird, langweilt es ihn. Er versucht das Epische für die Leinwand zurückzugewinnen. Die Langsamkeit. Das Vergehen von Zeit. Darauf wollte er sich bei den „Geliebten Schwestern“ bewusst einlassen. Die vierzehn Jahre, von denen der Film erzählt, zeichnen wie eine Geschichte dreier Flüsse, die umeinander mäandern, mal schneller, mal langsamer, sich entfernen, wieder einig werden.

Die vergehende Zeit sollte die Hauptrolle spielen, die Veränderungen, die sie mit sich bringt, die Komplikationen. Menschen, sagt Graf, sind kompliziert, hier sollten sie es sein und bleiben dürfen. Sie haben alle Zeit der Welt. Grafs Film ist für alle, die keine Szenen aushalten, die länger als dreißig Sekunden dauern, eine Zumutung. Für alle, die keine Nebensätze ertragen können, übrigens auch. Die Angst vor Text haben. Liebe wird hier Sprache. Liebe wird Brief.

Mit zwölf Vorlesemeister, mit 61 Meisterregisseur

Es wird in Permanenz gepostet. Schiller schreibt mit zwei Händen gleichzeitig. Sie werden versiegelt, zugesteckt, sie fallen, sie werden verbrannt. Text flutet, tanzt von überall her über Bilder, die sich sehr fein wehren können, ins Kino. Die Sprechqualität ist hoch. Es gab ein regelrechtes Trainingslager in Jena, in dem Graf mit Florian Stetter, seinem fabelhaften Schiller, mit den herrlich durch die Landschaft und die Gespinste der Worte leuchtenden Henriette Confurius (Charlotte) und Hannah Herzsprung (Caroline), Rhythmus und Fluss der Sätze probierte.

Graf selbst, der mit zwölf Münchner Vorlesemeister war, gibt die Stimme aus dem Off. Das gleichschenklige Dreieck wird gegeneinander montiert, sie lesen ihre eigenen Briefe ihrem eigentlich imaginären Gegenüber vor. Die Feder kratzt über die Leinwand.

Graf hatte da keine Skrupel. Man soll, zitiert er Godard her, jeden neuen Kinofilm machen, als wäre er das letzte Wort, was man zum Wesen des Kinos, seinen Mitteln und Möglichkeiten noch mal loswerden wollte. Von „Goethe!“, vom volkshochschulhaften Bildungs-Biopic-Kino sind Grafs „Schwestern“ so entsetzlich weit weg wie entschieden nah dran an der Lebens- und Gefühlsrealität seines Personals.

Huch, ein außergewöhnlicher Film!

„Wenn“, sagt er, „ein Film von Menschen handelt, von denen mindestens einer ein Genie war und die anderen beiden ziemlich begabt waren, muss er der geistigen Gradation, dem Elitären dieser Figuren gerecht werden. Und dann muss man die vielen Worte ertragen können. Man darf diese Leute nicht auf unser normales Format herunterbringen, nur weil wir es gerne klein haben im Moment. Wir machen uns doch künstlich blöder, als wir sind.“

Graf nestelt am T-Shirt. Redet sich in Schwung. Darüber, was alles verloren gegangen ist in der Diktatur des Konsenskinos, was man sich nicht mehr traut. Über die Spießbürgerlichkeit der Diskussion darüber, was Kino kann und darf, was man vermeiden muss, damit etliche Herrschaften in den Gremien der Filmförderung nicht mit lautem „Huch“ in Ohnmacht fallen und dabei die Förderanträge mit sich unter den Tisch reißen.

Nicht einen halbwegs realistischen „Polizeiruf“ oder „Tatort“ würde man durch die Filmförderung bekommen, sagt er. Kinofilme haben, sagt er, heute cineastische Coffeetablebooks zu sein, Dinge, mit denen man angeben kann. Die cineastischen Kommentare zur Lage des Landes, die gibt es im Fernsehen. Im Kino, sagt Graf, gibt es kein Gespür mehr für ein dreckigeres Deutschland.

Utopien sind nicht öffentlich-rechtlich

Jetzt würde man ja gern noch einwenden, dass „Die geliebten Schwestern“ (nach einigem Finanzierungsradau) ja auch möglich waren. Ein riskantes Ding, das schon im Berlinale-Wettbewerb verloren herumstand im Gewitter der filmischen Gegenwartsbeobachtung. Ein langsamer Tanz, ein schöner, langer, trauriger Traum von einem Film. Und dass man gar nicht wissen will, würde man noch gern einwenden, was beim Entbrutalisieren von „Smoke on the Water“ herauskommt. Dass man von öffentlich-rechtlicher Kleingeisterei zumindest auch schon mal vage gehört hat.

Aber es hilft nichts. Jede Sekunde zählt. Die Schnitterin vom Jugendschutz kommt vielleicht gleich. Da ist man dann doch lieber draußen im Regen. Oder beim Kindergeburtstag. So kippt eine jegliche Utopie in den Alltag.