Abendblatt-Autor Tino Lange begleitete Bands aus Hamburg, Berlin und München durch die Dorfdiskos - zwei Tage hielt er durch.

"Hey, gehörst du zu einer der Bands? Nein? Schade, ich knutsche nur Bands." Das Mädchen, das sich eben noch eine Zigarette erschnorrt hat, ist so schnell weg, wie es kam. Was bleibt, ist eine leere Schachtel und Herzrasen. Nicht das Herzrasen der Romantik, sondern eine flatternde Pumpe nach zu viel Koffein-Brause und Kaffee. Das also ist das Leben von Popbands auf Tournee: Schlaf wird überschätzt. Es ist Mitternacht an diesem Donnerstag. Sein Ende ist - so Gott will - nah hier vor dem Miniklub "Alte Post" in Oelde. Im Nirgendwo zwischen Bielefeld und Münster.

40 Stunden vorher sieht alles noch ganz anders aus. Am Mittwochmorgen schluckt ein altgedient-charmanter Reisebus in der Feldstraße die Hamburger Band Bratze, ihr Plattenfirmen-Team und Journalisten. Bratzes Plattenfirma Audiolith lädt zur "Dorfdisko Geiselfahrt" 2000 Kilometer quer durch die Republik, um an vier Tagen in vier ausgewählten Provinzgemeinden das neue Album "Korrektur nach Unten" live vorzustellen. Auf dem Weg steigen weitere Audiolith-Bands - Egotronic aus Berlin und Frittenbude aus München - dazu. Zuerst aber geht es ums Überleben: Hastig werden Unmengen Discounter-Dosenbier, Energiebrause, russischer Kartoffelschnaps und Mineralwasser in den Gepäckraum gewuchtet, der chronisch beim Anfahren absaufende Motor geprüft, dann geht es los in Richtung ... nirgendwo.

Schnell hat sich jeder Fahrgast an das verdächtige Geräusch entweichender Luft gewöhnt. Es sind nur die Pilsdosen, nicht die Bremsschläuche. Und so zieht Fahrbahnmarkierung nach Fahrbahnmarkierung vor der Frontscheibe vorbei, während Audiolith-Labelboss Lars Lewerenz von seinem kürzlichen Traum erzählt: So wie die Sex Pistols im Film "Sid & Nancy" durch die Provinz karren, so sollen Audiolith-Bands durch die Bundesrepublik reisen. Ausgesuchte Orte mit der richtigen Einheit von Ortsname, Klubname und allgemeiner geografischer Attraktivität (sprich: keine Fluchtmöglichkeiten) sollen es sein. Ein Anruf bei Audolith-Booker Artur Schock, weitere Anrufe durch Schocks Kontaktliste und da sind sie: Das "Rohtabak" in Döbeln (Mittelsachsen), die "Alte Post" in Oelde (Münsterland), der "Schwarze Adler" in Tannheim-Egelsee (Oberschwaben) und die "Musikkneipe Tenne" in Höhr-Grenzhausen (Westerwald).

"In Großstädten aufzutreten und zu feiern, ist ebenso Audioliths Auftrag wie in Kleinstädten - da ist es oft noch besser", sagt Lewerenz beim Aufreißen der nächsten Kanne, "die Bühnen sind klein, die Fans hautnah dran, die Dankbarkeit für Bands, die sich da hinwagen, groß." Die Auftrittsorte dieser Minitour sind mit ihren 20 000 Einwohnern im Vergleich zu Hamburg oder Berlin natürlich mit reichlich Exotenstatus gesegnet, für die Bands aber ist es Alltag. Bratze, Egotronic und Frittenbude haben sich längst einen Namen gemacht und bekommen in Hamburg locker ein "Ausverkauft"-Schild an die Tür von Hafenklang und Molotow gehängt. Beim Reeperbahn-Festival oder Dockville ziehen sie Tausende vor den Fotograben.

Dennoch zählt jeder Gig, jede Eintrittskarte jedes verkaufte T-Shirt, egal wo, egal wie. "Ich lebe acht Tage in der Woche für die Musik und von der Musik", erzählt Norman Kolodziej, der zusammen mit Kevin Hamann seit 2007 das Duo Bratze bildet, seit 2004 solo als "Der Tante Renate" unterwegs ist und als Produzent auch den Sound von Kevin Hamanns zweiter Band ClickClickDecker veredelt. "Ich lebe manchmal von der Hand in den Mund in einer Achterbahn zwischen Disziplin und enthemmter Endorphin-Ausschüttung. Aber wir sind frei und keine Produkte", ergänzt Kolodziej und weist in die Runde auf der Liegewiese im Bus-Rückraum. Musiker, Labelchef, Merchandise-Verkäufer begegnen sich im Audiolith-Netzwerk auf freundschaftlicher Augenhöhe und vermissen nicht den Whirlpool oder die Bundeskegelbahn, die man sich an dieser Stelle bei den Rolling Stones im Tourbus vorstellen würde. Hier liegt nur ein Leergut-Sack, der sich stetig füllt, vor allem nach dem Stopp in Berlin und der Aufnahme weiterer Musiker, Gäste und ihrer entsprechenden Getränke.

Zwölf Stunden und zwei Leergutsäcke später entladen sich im Döbelner "Rohtabak", einem leicht abgerittenen 300-Gäste-Klub in einem alten Industriekomplex, die angestauten Endorphine. Denn sowohl Bratze als auch Frittenbude und Egotronic brauchen nicht viel, um die Fans, die teilweise aus Schwerin, Leipzig und Dresden gekommen sind, ebenfalls in Geiselhaft zu nehmen.

Alle drei machen Elektro-Pop mit Punk-Einstellung, Elektro-Punk mit Pop-Faktor. Wüste Beats, und Synthesizer-Ritte über die Karpaten kommen aus dem Rechner und werden angereichert durch gezielt eingesetzte Gitarren (Bratze), E-Bass (Frittenbude) oder Mini-Keyboards (Egotronic). Auf diese sofort in die Beine gehende Grundlage kommen Parolen für das Herz: "Ohne das ist es nur noch laut", "Es hat so gut begonnen, doch wo soll es enden?", "Wir raven gegen Deutschland". Die Döbelner quellen von vorne über den Bühnenrand, Labelboss Lewerenz fordert Ausschreitungen, vier Stunden tobt der Bass, der Pulk, bevor der mitgereiste DJ MTDF aus Zürich die Reste auffegt. Sensationell. Der Shirt-Verkauf - Stück 15 Euro - brummt, Probleme wie eine renitente Bratze-Gitarre nebst über den Haufen geworfene Songliste und der maue abendliche CD-Absatz (vier Exemplare) werden von der Begeisterung bis in die frühen Morgenstunden weggespült. Man schläft, wo man hinfällt, im nahen Jugendzentrum, im Bus oder gar nicht.

Für manchen ist das letzte Bier der Nacht das erste des Tages. "Irgendwann ist man automatisch im Tour-Rhythmus und der Körper gehorcht" antworten die Bratze-Jungs auf die ermüdete Frage, wie man solche Abende mit anschließendem Kilometerfressen länger durchhält.

Die Achterbahn zwischen Disziplin und Endorphin-Ausschüttung, sie hält nach 480 Kilometern im blitzsauberen Oelde noch Überraschungen parat: Zwei Magdeburger Fans haben dem Bus, einem Aufruf im Audiolith-Blog folgend, an einer Raststätte aufgelauert und trotz tarnendem "Scooter"-Banner im Heck erkannt. Nach einer kleinen Verfolgungsjagd bekommen sie viel Lob für ihre Hingabe und Gästelistenplätze nach Wahl. Allerdings ist auch das Ordnungsamt Oelde freigiebig und verteilt einen Strafzettel im Wert von 35 Euro für das Wildpinkeln eines Trossmitgliedes - direkt an die Wand des Ordnungsamtes Oelde.

Das bleibt die einzige Disziplinlosigkeit, aber auch Glückshormone sind in Oelde rar: Der ausverkaufte 180-Personen-"Saal" wirkt leerer als er sein sollte, das sehr junge Publikum im Vergleich zu Döbeln geradezu reserviert: "Das war schmerzhaft", nimmt Kevin Hamann die Enttäuschung hin. Ermattet geht der Tross auseinander in Hotels oder private Partykeller. Über letzterem dröhnt Musik und Flaschengeklirre, Spontanbekanntschaften vergnügen sich im Dunkeln, Energiebrause vergnügt sich mit den Herzkammern. Nach 1000 Kilometern muss Schluss sein und der Bus fährt mit einer Geisel weniger zwei weiteren Abenden entgegen. "Es hat so gut begonnen, doch wo soll es enden?" Beim Kaffeeröster.