Verbrecher, Priester, Kaiserinnen: Eine umfangreiche Ausstellung lockt ins Museum für Kunst und Gewerbe

Hamburg. Wenn er nicht gerade nackt Modell steht, dann arbeitet der Mann mit den grünen Lippen in einem Telefonladen. Seine Augen sind von grün-rot-schwarzen Ornamentschwüngen umgeben, sein Kinn ziert eine Blüte, den Hals ein Totenkopf, und von da an weiter runter gibt es kaum ein Fleckchen Haut, das nicht tätowiert wäre. Der niederländische Fotograf Ralf Mitsch hat diesen Mann porträtiert, zusammen mit 49 anderen Menschen, und daraus ein Buch gemacht: „Why I love Tattoos“. Fotos von sechs dieser Menschen hängen jetzt überlebensgroß im Treppenhaus des Museums für Kunst und Gewerbe. Sie werben für die neue Tattoo-Schau, die dort vom 13. Februar bis zum 6. September zu sehen ist.

Die Ausstellung stammt vom Gewerbemuseum in Winterthur und wurde vom hiesigen Projektleiter Dennis Conrad mit vielen interessanten Hamburger Exponaten angereichert. Ins Museum für Kunst und Gewerbe passt sie deshalb besonders gut, weil das Tätowieren schließlich ein uraltes kunsthandwerkliches Gewerbe ist. Sogar ein historischer Reisekoffer mit sämtlichen Utensilien ist hier zu entdecken, außerdem ein langer Tisch mit Tätowiergeräten und einem gespitzten Stock, der bis heute zum Bilderstechen verwendet wird. Die Bandbreite reicht von James Cook, der exotische Tätowierpraktiken am Beispiel des polynesischen Häuptlingssohnes Juri schildert, über die genau codierten Tattoos russischer Strafgefangener bis hin zum tätowierten „Verbrecheranzug“ der japanischen Mafia, den ein Taxifahrer auf seiner Haut trägt.

Auch die Grenze zur Werbung wird in einem Video lustvoll überschritten: Der halbnackte Rick Genest blickt dem Betrachter frontal ins Gesicht, bis er den ersten großen Wattebausch auf seine Brust niedersausen lässt. O Wunder: Es erscheint das erste Tattoo, und man fragt sich, was für ein Trick dahintersteht. Bis er den zweiten, noch größeren Wattebausch ansetzt, Glatze und Gesicht frei wienert. Nun blickt uns ein kompletter Totenkopf an, und beim Lächeln ziehen sich die langen, auftätowierten Zahnwurzeln in die Breite.

Der 29-Jährige hat sich, nachdem ihm mit 19 Jahren ein Gehirntumor erfolgreich entfernt worden war, den gesamten Körper mit einer verwesenden Leiche tätowieren lassen. Das Video im Museum zeigt ihn in einem Werbespot, der für ein gut deckendes Make-up wirbt. Genest ist vielleicht die extravaganteste Figur unter all diesen Menschen, die sich nach Besonderheit sehnen. Manche, wie die Gefängnisinsassen, die der Österreicher Klaus Pichler fotografiert hat, wollten durch die Tätowierung einfach mal wieder spüren, „dass man noch lebt“.

Mitunter ist der Besuch dieser faszinierenden Ausstellung also eine Frage der Nervenstärke. „Painful Passion“, „Burning Needles“, „Endless Pain“ steht nicht grundlos über den Studio-Türen. Da Tattoos in die menschliche Haut gestochen werden – in einem langen, intimen, schmerzhaften Ritual, hat man es jedes Mal mit nackter Haut zu tun. Auch mit solcher, die aus der Rechtsmedizin stammt – in Form von Hautpräparaten mit Tätowierungen unbekannter Leichen aus der Zeit um 1900, haltbar gemacht zum Zweck der nachträglichen Identifizierung.

Die Schaulust wird hier ausgiebig befriedigt, aber das Ziel ist weiter gesteckt. Es geht in dieser Ausstellung darum, völkerkundliche, technische, künstlerische, soziologische und andere Dimensionen von Tätowierungen in Geschichte und Gegenwart aufzuzeigen. Wer weiß heute schon, dass der Adel im 19. Jahrhundert Tätowierungen liebte – und sogar Kaiserin Sisi einen gestochenen Anker im Nacken trug? Nicht gerade klein ist die Auswahl an Kunstwerken, die sich mit Tattoos beschäftigen. Dasjenige, das ethische Grenzen massiv überschreitet und zugleich aufzeigt, stammt von dem Polen Artur Zmijewski. Er überredete den 92-jährigen Auschwitz-Überlebenden Josef Tarnawa, sich die Nummer auffrischen zu lassen, die ihm die Nazis als KZ-Häftling eintätowiert hatten. Das Ganze ist auf Video dokumentiert und bewegt sich zwischen Re-Traumatisierung und dem Stechen eines tief aufrüttelnden Mahnmals.

Eine hohe spirituelle Bedeutung haben Tattoos in Thailand. Sie wehren, so glaubt man dort, böse Geister ab, schützen und segnen ihren Träger. Weniger spirituell ist die Bedeutung von Tattoos bei den neuseeländischen Maori. Ihre Gesichtstätowierungen geben Auskunft über ihren Rang, Vorfahren und Fähigkeiten. Bei den Chin-Frauen in Birma gehört die Tätowierung des Gesichts dagegen zu den Ritualen, die den Übergang von der Kindheit zum Erwachsensein markieren.

Historische japanische Quellen erwähnen Tattoos erstmals im 3. Jahrhundert. Im Gegensatz zu heute hatte jede Figur ihre Bedeutung: Der Drache stand zum Beispiel für Männlichkeit, Macht oder den Himmel. Von 1870 bis 1948 waren Tätowierungen in Japan verboten, und noch heute ist es verpönt, sie öffentlich zu zeigen. Der Museumsgründer Justus Brinckmann war ein wissbegieriger Universalgelehrter. Er kaufte handkolorierte Fotografien und historische Farbholzschnitte an und schrieb 1889: „Unsere Betrachtung des Costüms der Japaner würde unvollständig sein ohne einen Blick auf die ihnen eigene Verzierung des nackten Leibes durch mehrfarbige Tätowierung...“

„Tattoo“ Museum für Kunst und Gewerbe, 13.2.-6.9., Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00