Die Doku „Night Will Fall“ schildert die Geschichte eines Films, der das Grauen der KZs zeigen sollte, verschollen schien und 2014 rekonstruiert wurde

Bevor man die Dokumentation „Night Will Fall“ tatsächlich gesehen hat, ist man geneigt, der ARD den Sendeplatz im Nachtprogramm vorzuwerfen. Immerhin geht es um ein historisch immens wichtiges Thema, immerhin stehen wir am Montag kurz vor einem Jahrestag: Am Dienstag vor 70 Jahren wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Seit 1944 rückten die alliierten Truppen aus allen Richtungen immer näher an das Kerngebiet des Dritten Reichs heran, die Fronttruppen wurden begleitet von Kameraleuten, Kriegsberichterstattern. Und diese gehörten zu den Ersten, die das ganze Ausmaß der Gräueltaten der Nationalsozialisten erlebten.

Sie filmten in Bergen-Belsen, in Majdanek, in Auschwitz, in Buchenwald, in Dachau. Sie filmten die Toten und die lebenden Toten, die Leichenberge, die Krematorien, die Stacheldrahtzäune. Sie filmten die mit deutscher Gründlichkeit gelagerten und zur Weiterverwertung vorbereiteten Säcke voller menschlicher Haare, die Berge von Kleidung, Schuhen, Koffern, Bürsten und Brillen. Sie filmten menschliche Asche und Lagerräume voller Zyklon B. Sie schufen Dokumente der Zeitgeschichte.

Und die Briten begannen, diese Aufnahmen zu sammeln, es sollte eine Dokumentation entstehen, ein filmischer Beweis. Der Produzent Sidney Bernstein gab die Anweisung, „alles zu filmen, was eines Tages beweisen würde, dass dies wirklich geschehen war. Es sollte eine Lehre für die Menschheit werden – und auch für die Deutschen. Für sie machten wir den Film. Denn die meisten von ihnen behaupteten, nicht von den Lagern gewusst zu haben.“ Bernsteins Ziel war es, so viel Material wie möglich aus so vielen Quellen wie möglich zusammenzutragen. Er kontaktierte seinen Freund Alfred Hitchcock, bat ihn, als Regisseur die Einzelteile zusammenzufügen. Doch nach Kriegsende erlahmte der Wille, die Weltöffentlichkeit, aber auch die Deutschen selbst mit dem Völkermord zu konfrontieren. Zehntausende Überlebende der KZs waren ohne Heimat, die USA und Großbritannien sahen sich aber außerstande, all diese Menschen aufzunehmen. Man befürchtete, der Film könnte zur politischen Last werden, die Flüchtlingspolitik untergraben. Zudem begann das Bündnis gegen Nazi-Deutschland Risse zu bekommen, die Deutschen wurden als künftiger Bündnispartner gegen die Sowjetunion ins Auge genommen.

Die Amerikaner wollten den Deutschen das Material dennoch zeigen, als Film gewordene Anklage: Unter der Aufsicht von Billy Wilder entsteht der Kurzfilm „Die Todesmühlen“. Hitchcocks und Bernsteins Großprojekt mit seinem über den Schock hinausgehenden Fokus hingegen wird im September 1945 eingestellt, das Material archiviert. Einzelne Filmrollen kommen in den Kriegsverbrecherprozessen als Beweismittel zum Einsatz, doch der „German Concentration Camp Factual Survey“ (in etwa: Tatsachenbericht über die deutschen Konzentrationslager) galt lange Zeit als verschollen.

„Night Will Fall“ zeichnet zum einen die Geschichte dieses erst im vergangenen Jahr rekonstruierten Films nach, lässt Kameraleute, Cutter und Überlebende der KZs zu Wort kommen. Zum anderen zeigt die 75-minütige Dokumentation Originalaufnahmen dessen, was die alliierten Truppen sahen, als sie die KZs befreiten: Es sind zutiefst verstörende, erschreckende, beklemmende Bilder. Die innere Distanz zum Gezeigten, die oft bei Schwarz-Weiß-Aufnahmen entsteht, wird von der Unmittelbarkeit der Eindrücke überrollt, von der Unbarmherzigkeit, mit der die Kameras die Opfer zeigen.

Jede einzelne Sequenz aus jedem einzelnen Lager zeigt, was passiert, wenn ein Regime Zivilisation, Moral, Ethik und Mitmenschlichkeit ausmerzt und an ihre Stelle eine Ideologie setzt, die monströse Brutalität mit kaltblütiger Berechnung paart. Vor gerade einem Menschenalter entfesselte das Deutsche Reich nicht nur den schlimmsten Krieg der bisherigen Geschichte, die Deutschen werden auch auf ewig das Volk sein, das den industrialisierten Massenmord erfand, die vollständige Entmenschlichung derer, die man für lebensunwert erachtete.

„Night Will Fall“ ist tatsächlich kein Film für das Vor- oder Hauptabendprogramm. Denn er zeigt nicht das erfundene Grauen eines Krimis oder Thrillers, er zeigt das wahre Grauen. Die Zeitzeugen können es auch Jahrzehnte später kaum ertragen, über das zu sprechen, was sie damals dokumentiert haben, einer findet eine Beschreibung: „Ich habe in die Hölle gesehen.“

„Night Will Fall“, 23.30 Uhr, ARD