Der Geiger und die Philharmoniker konzertierten in der Laeiszhalle

Hamburg. Es gehört zum Wesen großer Kunst, dass man sich ihr von verschiedenen Seiten nähern kann. Für das Werk eines Ludwig van Beethoven gibt es nicht die eine, letztgültige Lesart. Es wandelt sich über die Jahrhunderte mit den kollektiven Erlebnissen und Hörerfahrungen seines Publikums. Jeder Generation wird Beethovens Œuvre etwas anderes erzählen, und zugleich bleibt es sein höchstpersönlicher Ausdruck.

Von diesem scheinbaren Paradox zwischen Rezeptionsgewohnheiten und Ideologien handelte das jüngste Konzert der Philharmoniker Hamburg und machte auf verblüffende Weise klar, wie viele Interpretationen Beethoven erträgt. Sogar zeitgleich.

Pinchas Zukerman, einer der strahlendsten Vertreter der alten Geigerschule mit ihrem Ideal einer makellosen Perfektion und eines an Volumen und Glanz orientierten Klangs, feierte auf seine Weise ein Fest für Beethoven und riss die Hörer im ausverkauften Großen Saal der Laeiszhalle am Montagabend von den Stühlen. Selbstbewusst, seelenruhig und so überlegen spielte er, dass einige zu tiefe Töne den Genuss nicht schmälern konnten. Den Bogen drückte Zukerman manchmal übermäßig in die Saite, als fürchtete er, sonst die Kontrolle zu verlieren. Und seine Linienführung war die eines absoluten Monarchen: Phrasenverlauf und Schwerpunktsetzung, c’est moi! Warum sich auf einem Schlusston nicht genüsslich ausruhen? Diese Gewichtungen wirkten mal anrührend persönlich und mal etwas willkürlich. Aber einen so direkten Kontakt bekommt das Publikum nicht alle Tage zu einem Weltstar. Die Blumen teilte er gut gelaunt mit den Damen des Orchesters, und als Zugabe brachte er eine Hamburger Spezialität: Brahms’ „Guten Abend, gute Nacht“ zum Mitsingen. Begeisterung im Saal – und Jubelrufe, als die Philharmoniker für die zweite Hälfte auftraten.

Hatten sich der Dirigent Bertrand de Billy und das Orchester beim Violinkonzert gleichsam mit einem Augenzwinkern auf Zukermans Starkstromklang eingelassen, ohne ihre eigentlich schlankere Tongebung zu verhehlen, so führten sie bei Beethovens 3. Sinfonie „Eroica“ vor, wie aufregend lebendig und sprechend ein modernes Sinfonieorchesters Beethoven heute spielen kann. Wie sinnbewusst und fein abgestuft in der Hierarchie und dem Miteinander der Stimmen, wie witzig auch, etwa beim Thema des letzten Satzes, wenn wie bei dem Kinderlied „Jetzt fahr’n wir übern See, übern See“ keiner in die Pause fallen darf. Frei und homogen klangen die Streicher, betörend weich und agil die Holzbläser, und das Blech schmetterte lustvoll und schattierte dann wieder bis ins feinste Piano ab – kurz, die Philharmoniker zeigten sich in Hochform. Und wie de Billy die Sekundreibungen im Trauermarsch des langsamen Satzes auskostete, bekam der Hörer den Eindruck, er könne die Seelenqualen des Komponisten am eigenen Leibe spüren. Eine Sinfonie wie das Leben. Was für ein Abend.