Im Malersaal des Hamburger Schauspielhauses wurde „Ich, das Ungeziefer“ uraufgeführt, eine Bühnenversion von Kafkas Erzählung „Die Verwandlung“. Spektakulär, komisch, und zum Schluss wird es erotisch.

Hamburg. Ein spektakulärer, bildmächtiger, komischer, durch und durch von kafkaesken Assoziationen gestalteter Abend ist dem ungarischen Regisseur Viktor Bodó mit seiner Inszenierung „Ich, das Ungeziefer“ im Malersaal des Schauspielhauses gelungen.

Die albtraumhafte, surreale Geschichte des zum riesenhaften Insekt gewordenen Handelsvertreters Gregor Samsa, der noch in der Wohnung seiner Eltern lebt, veröffentlichte Franz Kafka 1912, und sie funktioniert tatsächlich auf der Bühne. Obwohl eigentlich nicht viel passiert und das ungeheuerliche Ereignis der Verwandlung bereits „gestern“ stattgefunden hat.

Aber die Geschichte erzählt von Lebensekel und Lebensangst, von Macht und Ohnmacht, von Verfall, der ein einziges Rätsel bleibt, und ist vielfach interpretierbar. Bodó hat sie als großen Spaß mit sehr viel Bedeutung inszeniert. Franz Kafka wollte sie nicht als Traum verstanden wissen, sondern als Realität. Und auf gar keinen Fall wollte er die reale Darstellung eines Insekts. Die gibt es auch nicht, obwohl dieser Käfer gewordene Mensch bis unter die Decke krabbelt oder sich vierfüßig und aufrecht im Hamsterrad dreht.

Spiel- und kletterfreudiges Ensemble

Viktor Bodó, Autor Péter Kárpáti und das virtuose, spiel- und kletterfreudige Ensemble, bereit bis ans Äußerste zu gehen, gestalten diese wahnwitzige Wirklichkeit rasant und mit großem szenischen Aufwand, mit Slapstickeinlagen, surrealistischen Bildern, Anleihen bei Freud, dem Expressionismus, Lars von Trier und Motiven aus Kafkas Welt. All das zieht die Zuschauer weit hinein in die Geschichte, lässt das Geschehen lebendig werden. Gelegentlich werden die Zuschauer angespielt, die Schauspieler krabbeln durch die Reihen, und Gregor Samsa (Carlo Ljubek) sitzt sogar mitten im Publikum. Vor allem aber Juli Balász’ Bühne – eine riesige schwarze Röhre, die sich nach hinten verjüngt, innen wie ein U-Bahn-Schacht mit Klappen und Luken gestaltet ist und sich in den Zuschauerraum verlängert – gibt dem Publikum den Eindruck, Teil der Inszenierung zu sein.

So eine anregende, erfrischende und wirklich „andere“ Aufführung hat man lange nicht mehr im Theater gesehen. Hier zeigt sich, was Theater kann: Kafka-Kenner dürfen sich über die vielen Kafka-Verweise freuen, und Schüler, die vielleicht mit der „Verwandlung“ erstmals einen Kafka-Text kennenlernen, haben Spaß und erkennen, was Literatur und Theater erzählen können.

Zu Beginn – Samsa sitzt in der vierten Reihe – da schauen die Augen rollende Mutter, der weinende, sich die Haare raufende Vater, die schrille Schwester Grete und der wächsern-aasig aussehende Prokurist (Gábor Biedermann) abwechselnd neugierig, entsetzt und tadelnd durch ein winziges Eisenbahnfenster am Ende der Röhre mitten auf uns. Groteskes entwickelt sich auf der Bühne: Links schauen zwei Beine aus der Wand, rechts hängt ein Torso. Man macht Furzwitze, die Mutter süffelt heimlich, es wird gekifft und der hinzugezogene Tierarzt mit dem Pferdegebiss (Andreas Grötzinger) macht Handstand, bevor er das Publikum untersucht. Wir erinnern uns, Kafka war ein eifriger Turner, er liebte Slapstickfilme und Zeitgenossen, die seine Lesungen hörten, haben berichtet, dass er vor Lachen oft nicht weiterlesen konnte. All dies zeigt die Inszenierung wie beiläufig auch.

Erotisiertes Schattentheater

Ute Hannig schneidet als Mutter mit Kittelschürze Grimassen, ist ein wenig neben der Spur aber wunderbar präsent neben ihrem Mann, den Samuel Weiss mal als lässig Verwirrten spielt – „Ich gehe jetzt angeln“ sagt er und wirft die Rute aus – mal als schreienden Haustyrann. Der Abend, der Texte aus Kafkas „Brief an den Vater“ verwendet, erschließt sich am ehesten durch die psychoanalytische Deutung des Vater-Sohn-Konfliktes. Die Ordnung in der Familie, in der der Sohn zwar für den Lebensunterhalt sorgt und unter enormem Druck steht, der Vater aber rüde regiert, wird auf den Kopf gestellt.

Angst und Ekel vor dem Insekt halten sich in diesem Kuriositätenkabinett nicht lange. Die Familie will frühstücken und teilt sich dazu einen Teebeutel, während rauchend in der Wand der Toast verschmort. „Was ist mit Gregor?“ stottert Grete (Gala Winter). Klaus von Heydenanber hat eine lustig hüpfende Musik für den Abend geschrieben, die sich später auch zu Tangoklängen verändert. Spätestens als Ingrid (Karoline Bär) auftaucht, zurechtgemacht wie ein Stummfilmstar der 20er-Jahre, bekommt die Inszenierung auch Revuecharakter. „Der kann gar nicht denken und hat gar keine Gefühle“ behauptet die Mutter über ihren verkäferten Sohn, von dem der Arzt wissen will: „Er ist eine Kellerassel.“

Unglücklicherweise ernähren diese sich von ihrem Kot. Ja, auch das sehen wir. Vielleicht, um den gleichen Ekel entwickeln zu können wie die Eltern. „Schmarotzer“ brüllt der Vater später durch ein Megafon seinen Sohn an. So distanziert man sich leichter. „Ich habe nichts gegen Ungeziefer, aber nicht in unserer Wohnung“, heißt es da einmal.

Gegen Ende versammeln sich alle zu einem erotisierten Schattentheater, das sich in ein vielbeiniges Insekt verwandelt. Durch ein Glas grotesk verzerrt glotzen die Gesichter wieder ins Publikum. Dann ruft man den Kammerjäger (Aljoscha Stadelmann), und aus einer riesigen Turbine fliegt uns der Bühnennebel um die Ohren. Wahnsinn!

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