Mit Vivaldi in der Laeiszhalle: Der französische Countertenor Philippe Jaroussky begeistert das Hamburger Publikum. Am Ende erweist sich der stimmgewaltige Franzose sogar als grandioser Schauspieler.

Hamburg. Nur damit das Klischee gleich zu Beginn erledigt ist: Vivaldis Vokalmusik, ob nun für sakrale oder weltliche Zwecke, ist viel besser als sein Zweitliga-Renommee als barocker Zuvielkomponist. Viel vielseitiger, viel intensiver, enorm verspielt und von einer subtilen Leidenschaft getrieben, die selbst verhärtete Herzen stocken lässt vor Rührung und Sehnsucht nach dem weichen Licht des Südens. Vivaldi, der alte Charmeur, lässt seine Melodien oft so sanft über die typisch reduzierte Streicherbegleitung hinwegfliegen, wie warmer Abendwind über Pinienwipfel gleitet. Ob es dann um Gotteslob geht oder ums Schmachten, ist fast nebensächlich.

Dass der französische Countertenor Philippe Jaroussky, ohnehin schon eine der faszinierendsten Stimmen der Alte-Musik-Szene, aus seiner klug genommenen Fokussierungspause mit einem weiteren handverlesenen Vivaldi-Programm ins Rampenlicht zurückkehrt, macht reichlich Sinn. Denn in dieser Musik, die ihm so gut liegt, kann er seine Stärken bestens ausreizen: Das feine Ziselieren von Themen, die millimetergenaue Vergoldung von Phrasen und Verzierungen, die Raffinesse, mit der sich dynamische Dramatik auch auf kleinem Raum herstellen lässt. Egal, ob der Teilzeitpriester Vivaldi in Motetten in religiöser Ekstase schwelgt oder ob er als Unterhaltungskomponist seines Publikums den Schmerz eines Operncharakters über einen verloren gegangenen Geliebten aufbrausen lässt – schon nach wenigen Takten kann man nicht anders als unmittelbar mitleiden, mitlieben, miterleben. Es sei denn, diese Musik wird nur mittelmäßig bewältigt. Lauwarm und handzahm verträgt Vivaldi nicht.

Kein Wunder also, dass Jarousskys Konzert in der Laeiszhalle, begleitet vom kleinen, feinen Ensemble Artaserse, zu einem Abend voller Entdeckungen wurde, der das genaue Hinhören lohnte und belohnte. Dramaturgisch raffiniert: die Mischung aus weltlich und geistlich. Bis zur Pause kombinierte Jaroussky instrumentale Concerto-Zwischenspiele um das Stabat mater und die kunstvoll ausgeschmückte Motette „Longe mala, umbrae, terrores“ herum. Von Anfang an machte das Ensemble klar, dass stilkenntnisreich, aufmerksam und auf Augenhöhe musiziert wurde. Die Dialogfähigkeit zwischen Tutti und Solostimme war enorm. Klar und ungetrübt, wie mit ganz feinem Pinsel aufgetragen, kamen die Gesangsparts, während die Artaserses das Ganze liebevoll inszenierten, aber immer im Bewusstsein des zeremoniellen Anlasses.

Den Venezianer musikalisch auf Hochglanz poliert

Im zweiten Teil dagegen polierte Jaroussky Solitäre aus dem riesigen Opernkatalog des Venezianers auf Hochglanz. Und hier war trotz der Ähnlichkeit des musikalischen Vokabulars eine ganz andere Disziplin gefragt: Jaroussky sang nicht mehr nur, er verkörperte auch. Ganz ohne Bühnenbild, ganz ohne barockes Kostüm übertönte seine Stimme leise und eindringlich leuchtend den Rest, und dennoch sah und hörte man einem Menschen zu, der von heute sein könnte. So wurde aus „Vedrò con mio diletto“ aus „Il Giustino“ ein episches Fünf-Minuten-Drama, und aus „Gemo in un punto“ aus L’Olimpiade“ eines von vielen Schmuckstücken dieses Abends, der Jarousskys Klasse demonstrierte.