Der Choreograf Alain Platel zeigt sein humanistisches Meisterwerk „Tauberbach“ mit Tänzern und Schauspielern drei Tage lang auf Kampnagel

Hamburg. Im Gegenwartstanz geht es bekanntlich nicht um gestreckte Beine und synchron schwingende Körper in Perfektion. Und so ist das, was der Belgier Alain Platel mit seiner 1984 gegründeten Kompanie les ballets C de la B (die Abkürzung steht für Les Ballets Contemporains de la Belgique) betreibt, eben auch Tanztheater und nicht Ballett zu nennen.

Seinen Arbeiten ist anzumerken, dass Platel ausgebildeter Psychologe ist. Manche nennen ihn gar den Heilpraktiker des Tanztheaters. Er erzählt von Obdachlosen, Kindersoldaten und Randgruppen, er arbeitet mit Laien, mit körperlich oder geistig „Behinderten“, mit Hunden, oder auch mal mit einer Schar betagter Transvestiten. In all diesen Wesen sucht und findet er neben einer anthropologischen Wahrheit auch eine auf den ersten Blick scheinbar verborgene künstlerische Schönheit. Seine Produktion „Tauberbach“, die an den Münchner Kammerspielen entstand, gilt als sein traurigstes Meisterwerk. Zur Belohnung gab es den Titel „Produktion des Jahres“, verliehen von den Kritikern der Tanzzeitschrift „Tanz“, und – ausgestattet mit dem Prädikat „bemerkenswert“ – die Einladung zum Berliner Theatertreffen. Jetzt gastiert sie, präsentiert von dem Hamburger Theater Festival und Kampnagel vom 28. bis 30. November ebenda.

Die Schauspielerin Elsie de Brauw schält sich in „Tauberbach“ aus einem Berg aufgetürmter Kleider. Umringt von Tänzerinnen und Tänzern der Kompanie beginnt sie, mit Entschiedenheit verstörende Sätze zu sprechen: „I do not agree with life“. „Tauberbach“ ist verortet auf einer Müllhalde im brasilianischen Rio de Janeiro und de Brauw spielt eine real existierende Bewohnerin. Estamira lebt hier, und sie spricht die ganze Zeit. Mit sich selbst und mit den Stimmen in ihrem Kopf. Viele müssen es sein. Beängstigende. Der Filmemacher Marcos Prado hat der schizophrenen Frau in seiner eindrucksvollen Schwarz-Weiß-Dokumentation „Estamira“ ein Denkmal gesetzt. Der Film taucht ein in die Realität und auch in jene für real gehaltenen Imaginationen der Frau. Erschütternd aber zugleich würdevoll. Alain Platel wiederum ließ sich von dem Film inspirieren „Auch am beschissensten Ort kann man stolz sein“, sagt er.

Auch er vermeidet in „Tauberbach“ jeden Sozialkitsch. Die Performance verdankt ihren Titel den erklingenden Bach-Werken, gesungen von einem Chor aus Gehörlosen, den der polnische Künstler Artur Zmijewski initiierte. Bachs vollendete Musik, hier erklingt sie verzerrt, löchrig, uneben. Beleg dafür, dass Platel die Perfektion eben nur als eine Möglichkeit der Wirklichkeit unter vielen begreift.

Auf der Bühne geben die Tänzerinnen und Tänzer die dazugehörenden Charaktere – oder besser Identitäten, Wesenheiten. Zuckend und zitternd. Verquer und sich verrenkend. Körper, genauso beschädigt wie die Musik. Es geht um Chaos und Halluzinationen, um Kontrolle und Ausbalancieren und um einen Dialog zwischen Körper und Sprache. Erzählt von Schauspielern, die tanzen und von Tänzern, die spielen. Und am Ende geht es vor allem um einen Akt der Emanzipation und der Befreiung gegen widrige Umstände.

Die Arbeit ist folgerichtig für Platel, der 1956 als Sohn eines Architekten und einer Lehrerin in Gent zur Welt kam. Ein Austauschjahr in den USA brachte ihn mit verhaltensgestörten und geistig behinderten Kindern zusammen. Seither forscht er in der Wirklichkeit nach jenen kleinen, bedeutungsvollen Situationen, die von den großen menschlichen Fragen, von Elend, Rassismus, Ausgrenzung oder Einsamkeit erzählen. Immer steht der Glaube dahinter, dass eine Verbindung zum Universum möglich ist. Dass ein universeller Humanismus existiert, der uns alle zu Subjekten macht, die dem Tod, dem Begehren und Gefühlen wie Verlust und Sehnsucht ausgesetzt sind.

Zurück in Gent studierte Alain Platel Psychologie und nahm Tanz-, Pantomime- und Schauspielunterricht. Fünf Jahre lang betreute er schließlich selbst körperlich und geistig behinderte Kinder. All das hat seinen Blick aufs Leben gewandelt und geschärft. Seine Arbeiten entstehen kollektiv und immer mit einer Rückbindung an die Gegenwart. 2010 etwa verbeugte er sich vor der im Jahr zuvor gestorbenen Choreografielegende Pina Bausch in „Out of Context – for Pina“. Stets erzählen seine Abende universelle Geschichten. Regelmäßig ist Alain Platel Stammgast auf internationalen Festivals.

„Ich bin immer überrascht, dass es nicht mehr Wahnsinn gibt auf der Welt, dass die Menschen nicht noch mehr töten oder einfach verrückt werden“, sagt Alain Platel. Er sei sich der Traurigkeit des Lebens bewusst. Ein Pessimist ist er deswegen noch lange nicht.

Alain Platel: „Tauberbach“ Fr 28.11. bis So 30.11., jeweils 20.00, Kampnagel, Jarrestraße 20-24, Karten unter T. 27 09 49 49; www.kampnagel.de