Zwei herausragende Gastspiele des Living Dance Studios aus China

Hamburg. Die Kraft des Faktischen ist um ein Vielfaches stärker als jede Fiktion. Das zeigte sich jetzt auch bei den beiden Tanzperformances des Pekinger Living Dance Studios auf Kampnagel. Tanz ist bei der chinesischen Choreografin und Tänzerin Wen Hui erweitert zu verstehen. Beide Abende sind eher dokumentarische Forschungsreisen in die Vergangenheit, die durch den Dialog des Filmmaterials mit den Körpern im Raum auf berührende Weise erfahrbar werden.

Die alte Dame, deren Gesicht auf herabhängende Bettlaken projiziert wird, hat ein ansteckendes Lachen, das einen verbliebenen Vorderzahn freilegt. Es ist eine 83-jährige Großtante, genannt die „dritte Großmutter“, der Choreografin, aufgespürt nach Jahren in ihrem Heimatdorf. Die Begegnungen mit ihr, die Fragen an die Vergangenheit stehen im Zentrum von „Listening to Third Grandmother’s Stories“. Wen Hui bewegt sich langsam mit vielsagenden Gesten über die Bühne, neben ihr schöpft ihre betagte Mutter Wasser aus einem Eimer, und eine junge Tänzerin bewegt sich in Zeitlupe.

Eine schneidende Tonspur intensiviert die Poesie des Erzählens. Wenn die Großtante von einer Geburt im Kreise der Familie erzählt, vom Ehemann, der sie betrog und dem Leben nach der Scheidung. Das Erzählte ist auch Ausdruck einer Gesellschaft, die mit Vorliebe verdrängt und vergisst.

Das wird noch offensichtlicher in der zweiten Tanzperformance. „Memory II: Hunger“ lässt hochbetagte Überlebende der großen Hungersnot zwischen 1959 und 1961 zu Wort kommen, befragt von sechs jungen Filmemachern und Historikern. Mit Taschenlampen, die sie ein- und ausschalten, tasten sie sich langsam in die Vergangenheit vor. In ein erschütterndes, mit Tabu belegtes Kapitel der chinesischen Geschichte. Fehlplanungen der Wirtschaft im Zuge des „großen Sprungs nach vorn“ haben seinerzeit mit an die 45 Millionen Toten die größte Hungerkatastrophe der Menschheitsgeschichte ausgelöst. Frauen erzählen vom Tod ihrer verhungernden Kinder. Von aus Verzweiflung kahl gegessenen Bäumen.

Es ist ungemein berührend, parallel die jungen Dokumentare zu beobachten, wie sie sich über die Bühne tragen. Meist beschreiben sie und kommentieren nur wenig. Dabei vermitteln sie so etwas wie Hoffnung. Zwei hochinteressante Abende einer der wenigen freien Kompanien in China.