Mit Barock-Raritäten sang Cecilia Bartoli ihr Publikum in der Laeiszhalle schwindlig

Hamburg. Heimeliges Halbdunkel in der Laeiszhalle, das übliche Ambiente also, auf der Bühne stand ein kleines Ensemble, I Barocchisti, mit seinem Dirigenten Diego Fasolis, und mit dem ersten Stück des Abends dieser blitzschnellen Alte-Musik-Einsatztruppe wurde gleich mal klargemacht, was hier zwei Stunden zu besichtigen war: eine Show-Audienz. Ein total unbekannter, angemessen pompöser Marsch aus einer total unbekannten Oper des total unbekannten Stralsunder Cembalisten Hermann Raupach erklang. Pauken und Trompeten, Donner und Doria, wie es sich gehört. Genug höfische Pracht in zweieinhalb Minuten, um für diese zweieinhalb Minuten zum Monarchisten alter Schule zu werden, dann öffnete sich die Seitentür zur Bühne und Ihre Mezzo-Majestät Cecilia Bartoli trat nicht nur auf. Sondern in Erscheinung, als Musik-Botschafterin in schneeweißer Prinzesschen-Robe aus einem St. Petersburg, das es nur noch in Geschichtsbüchern gibt.

Der venezianische Vielzuvielschreiber Vivaldi konnte erst recht keine guten Opern komponieren, der Mozart-Mörder Salieri war am Wiener Hof ein karrieregeiler Stümper mit lausigem Charakter. Zwei der zahlreichen falschen Vorurteile, die sich hartnäckig über Komponisten hielten, hat Bartoli in ihrer Nebenkarriere als Repertoire-Schatzgräberin ausgehebelt und widerlegt; ihre jüngste Ehrenrettung galt der Vorstellung, dass es zum Thema russische Oper erst ab Glinka, einem Mendelssohn-Zeitgenossen, ernsthaft Entdeckenswertes gab.

Ihr gewährte das Marinsky-Theater, allerdings erst nach mühsam erbetteltem gutem Zureden von Hausgott Valery Gergiev, Einblicke in die ansonsten bombenfest verschlossenen Notenarchive, und einiges von dem, was sie dort fand und mit ihrer „St. Petersburg“-CD entstaubt und durchlüftet ins Rampenlicht stellte, hat die Wiederbelebung durchaus verdient.

Als Noten-Kurierin der Zarinnen Anna, Elisabeth und Katharina hat Bartoli ganze Arbeit geleistet. Sie singt jetzt Barock-Repertoire, das vor ihr jahrhundertelang niemand sang und für das ihre Interpretation von nun an der Maßstab sein wird. Wobei fraglich ist, ob sich überhaupt Interpretinnen daran trauen werden, denn zielsicher hat Bartoli auch einige Abschussrampen für Koloraturfeuerwerke im Programm installiert, die kaum jemand außer ihr unfallfrei in Betrieb nehmen kann.

Bei stimmlich minderbemittelten Sängerinnen würde außerdem deutlicher auffallen, dass einige dieser (jetzt weniger unbekannten) Zweitliga-Italiener, die von den russischen Herrscherinnen als Prestige-Betoner für feierliche Anlässe eingekauft wurde, nicht ganz zu Unrecht weitgehend vergessen sind. Weil sie routinierte Konfektionsware hinterließen, die gehorsamst geschrieben wurde wie bestellt. Doch was hier und da an Qualität und Originalität fehlen mag, macht einerseits das Charisma der ausführenden Diva scheinbar mühelos wieder wett, und was das nicht schafft, wird von ihrem Temperament mitgerissen ins Strahlende.

Diese Musik, jede einzelne Arie, ist ihr eine Herzensangelegenheit, das hört man in jeder Phrase, in jeder Ausschmückung Dass ihr Russisch in den Raupach-Arien wahrscheinlich arg weit von phonetischer Richtigkeit entfernt ist, fällt bei so viel Einsatz nicht nennenswert ins Gewicht. Andererseits sind da ja auch noch die Damen und und Herren von I Barocchisti zu loben. Musik aus der zweiten Liga braucht derart erstklassige Profis, um den entscheidenden Tick besser zu klingen, als sie ist. Von der Pausenfüller-Langweile, die bei instrumentalen Kurzstrecken droht, sobald der Star des Abends sich für die Dauer eines kurzen Stücks absentieren möchte, war hier weit und breit nichts zu hören. Dass das reguläre Programm mit einer Arie aus Händels Londoner Oper „Amadigi“ endete, war ein erhellender Brückenschlag ins westlichere Standardrepertoire.

Den schönsten Theatertrick des heftig umjubelten Konzerts zückte Bartoli relativ früh, nach einigen Bravournummern, als das Publikum, eh schon bester Laune wegen des Wiedersehens, ohnehin längst ganz auf ihrer Seite war. Für die Schäferstündchen-Arienszene „Pastor che a notte ombrosa“ aus Araias Oper „Seleuco“ kam als akustischer Kulissenzauber abendliches Vogelzwitschern aus den Lautsprechern. Das war zwar ungemein kitschig und eigentlich eher plumpe Gefühlsduselei und Stimmungsmache, aber in dieser liebreizenden Bühnenkünstlichkeit auch enorm romantisch.

Vorn links am Bühnenrand verdeutlichte die Solo-Oboe diese Genremalerei nach Noten noch, bis Bartolis silbrig fein geführte Stimme einsetzte und sich virtuos in einen Serenaden-Dialog mit den Melodielinien und -verzierungen dieses mitsingenden Holzblasinstruments verstricken ließ. Wegen Special effects wie diesem muss einem bei der Begegnung mit Barock-Arien einfach das Herz aufgehen, völlig egal, ob sie für den Hof in St. Petersburg geschrieben wurden oder für das bürgerliche Opernhaus am Hamburger Gänsemarkt. Wer da nicht gerührt ist und verzückt hin und weg, ist taub. Oder Schlimmeres.