Beim Kiezstürmer-Festival im St. Pauli Theater inszenieren und verkörpern Regisseurinnen ihre Interpretation des Filmklassikers

Hamburg. Das typische Schlagzeug-Intro dröhnt aus den Boxen. Der Bass setzt ein. Sechs Frauen streifen sich Blondhaarperücken über, schlüpfen in Netzstrumpfhosen, zwängen sich in Leopardenrock, Trash-Kostüm und Overknees. „Ihr seid alle supersexy“, sagt Cora Sachs. „Ich freue mich richtig, das mit euch machen zu können.“ „Ja, genau“, antworten die fünf anderen und steigen ihrerseits in Komplimente ein. Über die Bühne tänzelnd, als würden sie einen imaginären Kunden locken.

Inzwischen schmalzt Roy Orbison seinen Klassiker „Pretty Woman“, unvergesslich geworden durch die bekannte und ungemein erfolgreiche Verwendung in der Hollywoodkomödie „Pretty Woman“ von Garry Marshall. Das war 1990. Julia Roberts und Richard Gere. Kastanienbraune Locken. Legenden über Po- und Brustdoubles. Dezente Offenherzigkeit. Das romantische Märchen aus der Ära der Börsenhöhenflüge. Aschenputtel in Gestalt der Prostituierten Vivian begegnet dem Investor Edward, der sich gegen alle Konventionen verliebt, sie als Prinzessin zu seiner Gefährtin erhebt und sogar Skrupel in seinem bösen Metier entwickelt.

Die sechs jungen Regisseurinnen Anne Bader, Leonie Böhm, Paulina Neukampf, Cora Sachs, Alisa Tretau und Clara Weyde haben ihre eigenen Assoziationen dazu. Sie waren zwischen 10 und 12 Jahre alt, als der Film in die Kinos kam. Verguckten sich mit Millionen Kinogängern in die zuckrige Romantik, doch jetzt als Regisseurinnen stößt ihnen das Frauenbild sauer auf.

Grund genug, ihre eigene Anverwandlung vorzuführen. Mit den Mitteln von Performance, Tanz, Musik und Oper: Sechs „Pretty Women“ am 15. und 16. November bei den Kiezstürmern im St. Pauli Theater. Das Festival der jungen Regisseure, das regelmäßig gemeinsam mit der Theaterakademie Hamburg vorbereitet wird, geht nun schon ins zehnte Jahr. Anders als in den vergangenen Ausgaben mit Fließbandinszenierungen bringen die Sechs ihren Abend gemeinsam als Kollektiv auf die Bühne. Ungewöhnlich für den in der Regel ichbezogenen Regisseursberuf. Aber auch Symptom eines Wandels. Es gibt immer mehr bekannte Regisseurinnen an den Stadttheatern. Jette Steckel ist da nur eine prominente Absolventin der Kiezstürmer.

„Wir galten als der Frauenjahrgang“, sagt Alisa Tretau. „Für uns war das nicht wichtig, aber wir haben gemerkt, dass es für die Außenwelt ein Thema ist. Wir funktionieren automatisch als Projektionsflächen. Da haben wir uns entschlossen, nach drei gemeinsamen Jahren auch zusammen Regie zu führen.“ Genaugenommen ist es für die Sechs nicht das erste Experiment. Mit „Katzelmacher“ haben sie bereits zu Studienbeginn beim Kaltstart-Festival ein gemeinsame Theatercollage entwickelt. Ein Statement gegen den befürchteten Zickenterror gesetzt.

Für die „Pretty Women“ gehen sie noch einen Schritt weiter. Sie stehen nämlich gleich selbst auf der Bühne. Schauspiel ist schließlich auch Teil der Theaterausbildung. „Es geht um Beziehungsstrategien, die wir miteinander entwickeln“, erzählt Leonie Böhm. „Wir zeigen, dass wir im Kollektiv arbeiten können, dass das nicht notwendig in einem gegenseitigen Zerfleischen in Konkurrenzkämpfen enden muss.“ Und Alisa Tretau fügt hinzu: „Wir sind das Märchen.“ Anne Bader ergänzt: „Wir hatten Lust, uns und unsere Körper zur Verfügung zu stellen, Grenzen zu überschreiten.“

Den Theaterraum begreifen sie alle auch als einen Hort der Utopie, als gesellschaftliches Experimentierfeld, in dem neue Machtverhältnisse ausprobiert werden können. So haben sie sich gegenseitig Ideen geschenkt, gemeinsam weiterentwickelt, so dass jetzt nicht mehr trennbar ist, welche Idee eigentlich von wem stammt. Das ist schon erstaunlich, zumal sie sich gegenseitig bescheinigen, eine doch sehr individuelle Handschrift zu haben.

Es geht aber in „Pretty Women“ natürlich nicht nur um die Persönlichkeiten der Regisseurinnen sondern auch um den Filmstoff. Um Aspekte von Weiblichkeit, um das Frauenbild einer Prostituierten, die vom reichen Mann gerettet wird, um Sexarbeit, um Vorstellungen vom weiblichen Körper und von der romantischen Beziehung. Formal eingeteilt in einen Showteil, einen zarteren Mittelteil, der von Praxen der Verführung handelt und einem dritten, der ins Opernhafte übergeht. Da wird nach Herzenslust verführt, mit Filmgesten gespielt, und die Frage aufgeworfen, was geschieht eigentlich mit einem selbst, wenn man all das nachvollzieht? Feminismus spielt da naturgemäß eine Rolle, taucht aber eher unterschwellig in den sehr persönlich gefärbten Texten der Regisseurinnen auf, weniger als klarer theoretischer Entwurf.

Naturgemäß kommt die männliche Hauptfigur des Edward weniger gut weg, aber um Verunglimpfung geht es dem Sextett nicht. „Wir gehen spielerisch damit um. Mit Lust und Humor. Wir reiten nicht nur auf der Schlechtigkeit des Männer-Bildes herum“, sagt Alisa Tretau. „Auf keinen Fall soll es ein männerfeindlicher Abend sein. Wir versuchen die Figuren von allen Seiten zu beleuchten und im letzten Teil auch zu verteidigen“, so Leonie Böhm. Das gesamte Line-up von der Bühnenbildnerin bis zur Dramaturgin ist weiblich. Bis auf den Produktionsleiter. Leon Ospald darf auf Proben manchmal den Edward sprechen. Und hat sichtlich Freude daran. Wenn der Umgang der Geschlechter doch immer so spielerisch wäre.

Kiezstürmer: „Pretty Women“ 15.11., 19 Uhr, 16.11., 18 Uhr, St. Pauli Theater, Spielbudenplatz 29-20, Karten T. 47 11 06 66; st-pauli-theater.de