Bei der Umstellung auf Winterzeit gibt’s eine Stunde Schlaf gratis. Doch wir schlafen zu wenig. Autoren konzentrieren sich in ihren neuen Büchern auf die übermüdete Gesellschaft.

Hamburg. Mehr Licht. Aber immer nur zur rechten Zeit. So lässt sich ultrakurz und sehr bündig die Formel für eine gesunde Lebensführung beschreiben, wie Schlafforscher sie immer wieder aufstellen. Wer tagsüber genug Helligkeit abbekommt, schläft nachts gut. Ganz grob gesprochen. Schlafforscher gehen in der Regel davon aus, dass das nicht so ganz gut klappt mit dem Schlafen: Dass wir also permanent müde sind – was auf die Dauer ungesund ist. Wenn morgen mal wieder an der Uhr gedreht wird, bekommen wir immerhin eine Stunde geschenkt. Es beginnt ein kurze Ära des Ausgeschlafenseins, wie jedes Jahr. Sie wird bald vorbei sein. Wie jedes Jahr.

Denn es stimmt ja etwas grundsätzlich nicht mit unserem Schlafverhalten. Sagt zumindest der New Yorker Essayist und Kulturkritiker Jonathan Crary, der mit seinem neuen Buch „24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus“ zum einen einen nachdenklich stimmenden Abgesang auf einen biologischen Vorgang, zum anderen eine böse Anklage gegen ein Wirtschafts- und Gesellschaftssystem geschrieben hat. Zwischen Kapitalismus und Schlaflosigkeit besteht nämlich, so Crary, ein Zusammenhang: War der Schlaf über lange Zeit die letzte Bastion gegen den übergriffigen Kapitalismus, raubt Letzterer uns jetzt in Zeiten der Internet-Abhängigkeit und des Dauerkonsums auch diese Fluchtzone. Und er arbeitet sogar an der Abschaffung des Schlafes, um sein Prinzip der Gewinnmaximierung zur Vollendung zu bringen.

Da schluckt man erst mal, gell? Es ist ja nicht so, dass wir uns immer im Klaren darüber wären, wie sehr uns der Konsumterror anscheinend zusetzt. Oder dass uns Google, Facebook und die Glotze dauernd vom Zu-Bett-Gehen abhalten. Wir sind halt ständig online, genauso wie wir unsere Arbeitszeit durch pausenlose Verfügbarkeit über die Büro-Anwesenheit hinaus verlängern. So etwas geht schnell in Fleisch und Blut über, fällt gar nicht mehr auf. Es gilt auch, dass sich die Gegenwart ständig verändert – vielleicht genau in die Richtung, die jetzt von Crary im genüsslich exerzierten Panik-Modus ausgemalt wird. Warum sollte in Folge von ornithologischen Forschungen, die die Amerikaner derzeit anstellen, nicht irgendwann der Mensch das Schlafen für längere Zeitstrecken einstellen?

Die Dachsammer, eine amerikanische Singvogelart, kann sieben Tage am Stück wach bleiben. Damit taugt sie zum Vorbild für die Armee, denn der perfekte Soldat ist der, der lange wach ist. Wer die forschungsmäßig vorangetriebene Schlafüberwindung für eine Sache hält, die mit unser aller Leben nichts zu tun hat, der sei daran erinnert, dass auch das Internet einst eine Erfindung des Militärs war. Wenn man marxistisch wie Crary denkt und die Gesellschaft unter dem Aspekt betrachtet, wie der Markt die Menschen marktgerecht macht, kommt einem die 24-Stunden-sieben-Tage-die-Woche-Tyrannei, die Zeitgeist-Skeptiker schon lange ausrufen, nicht mehr übertrieben vor und der Alarmismus nicht mehr hysterisch.

Die Sommerzeit verurusachte schon in Russland eine landesweite Unausgeschlafenheit

Genauso grundsätzlich, aber auf denkbar andere Weise geht übrigens ein Sachbuchautor wie der Neurobiologe Peter Spork das Thema Insomnie an. Seine populär gehaltene Studie „Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft“ weist den Hamburger als einen überzeugten Schlaf-Lobbyisten aus. Von einer wortreich ausgeführten Formulierung des Status quo – Schlafdefizit, widernatürliche Arbeitszeiten, ungesunder Lebensrhythmus – kommt Spork auf seinen im Ratgeber-Duktus selbstbewusst und provokativ vorgetragenen Wake-up-Plan in acht Punkten. Da geht es um „Lichtduschen“, die zur rechten Zeit eingesetzt für die richtige Tagesstruktur sorgen sollen, um das Vermeiden von Weckern, um „Lerchen“ (Frühaufsteher), „Eulen“ (Spätaufsteher), um flexible, individuelle Terminkalender und Arbeitszeiten. Und auch: um das Abschaffen der Sommerzeit. Die bringt nämlich, so Spork, den gesamten Biorhythmus durcheinander und sorgt für notorische Unausgeschlafenheit.

Wenn man Sporks Bestandsaufnahme folgt, leben wir ungesund, weil wir nicht richtig und ausreichend schlafen. Ohne das groß zu problematisieren, würden da viele zustimmen, die den Wecker morgens am liebsten an die Wand klatschen würden. Sporks Vorschlag, die Einführung der Sommerzeit rückgängig zu machen, hat ein reelles Vorbild. In Russland wurde die erst 2011 dekretierte Zeitumstellung kürzlich einkassiert – nachdem eine Protestbewegung die landesweite Unausgeschlafenheit moniert hatte, die angeblich in einen Anstieg von Depressionen und Rückgang der Geburtenrate mündete.

Abendblatt-Tipp: Das Buch lesen und danach mal wieder richtig ausschlafen

Länger schon als Buchautoren beschäftigt der Schlaf Somnologen und Mediziner, weil ein unnatürlicher Umgang mit der Zeit Auslöser von vielen Krankheiten sein kann. Chronischer Schlafmangel als Merkmal unserer Zeit – das muss man aber nicht zwangsweise ideologisch als Argument gegen den Kapitalismus verwenden. Dementsprechend ist der Naturwissenschaftler Spork keiner, der das Mantra der „Entschleunigung“ anstimmt, das zuletzt häufig bemüht wurde; er plädiert nicht für mehr Müßiggang und schimpft nicht über Stress am Arbeitsplatz. Er fordert lediglich ausgewogenen Schlaf.

Jonathan Crary dagegen begreift in seiner Schrift die Schlaflosigkeit vor allem als Symptom der kapitalistischen Logik. In einer mutigen und irgendwie fast schon ergreifenden Engführung bringt er den Schlaf als Reservoir gegen das pausenlose Produzieren in Stellung, als einen Bereich, der nicht verwertbar ist. Laut Crary wohnen wir gerade der Durchsetzung des 24/7-Kapitalismus bei, der keine Unterbrechung mehr kennt. Zwar lasse sich der Schlaf nicht beseitigen, er „lässt sich aber zerrütten und aushöhlen“. Indem man den Blick der Konsumenten permanent lenkt – auf Fernsehbildschirme und Laptops, wo Google, Facebook und Mailprogramme das „Verhältnis von Ausgesetztsein und Geborgenheit, Aktivität und Passivität, Schlafen und Wachen, Öffentlichkeit und Privatheit“ aushebeln.

Der Schlaf als Zustand, in dem wir schutzlos sind und auf die Fürsorge anderer vertrauen, der Schlaf als „Form der Zeit, die uns zu etwas anderem hinführt als zu den Dingen, die wir besitzen oder begehren sollen“ – als leidenschaftlicher Beinahe-Prediger und kluger Diagnostiker wird Crary bisweilen auch pathetisch. Was sein Buch nicht weniger lesenswert macht.

Und morgen schlafen wir erst einmal richtig aus.

Jonathan Crary: „24/7. Schlaflos im Spätkapitalismus“. Wagenbach. 112 S., 14,90 €

Peter Spork: „Wake up! Aufbruch in eine ausgeschlafene Gesellschaft“. Hanser. 248 S., 18,90 €