Die Ausstellung „Augen auf! 100 Jahre Leica Fotografie“ zeigt in den Deichtorhallen 570 Aufnahmen von mehr als 140 Fotografen

Hamburg. Würde die Firma Leica nicht Fotoapparate herstellen, sondern Autos, dann wären ihre Modelle die Synthese aus dem Ford Modell T und einem Rolls-Royce. Sie sind zugleich bestrickend simpel und wahnsinnig kostspielig. Die Leica revolutionierte den Blick auf die Welt, zugleich haftet ihr der Nimbus des Elitären an. Fotografie ohne Leica ist absolut möglich und üblich – heute; Fotografiegeschichte ohne Leica aber ist undenkbar. Ein halbes Jahrhundert lang war sie das Maß aller Dinge. Für viele Liebhaber ist sie es immer noch – ein Desiderat, ein Traum, ein Fetisch. In welchem Ausmaß diese Kamera von ihrem ersten, von Oskar Barnack gebauten Prototyp im Labor des Herrn Ernst Leitz in Wetzlar 1914 bis heute unser Sehen geprägt hat, zeigt eine Ausstellung, die ab heute in den Deichtorhallen zu sehen ist.

„Augen auf! 100 Jahre Leica Fotografie“ ist eine in mancherlei Hinsicht erschöpfende Unternehmung. Die Schau umfasst 570 Bilder von mehr als 140 Fotografen, und die Formate sind, fast schockierend angesichts der heutzutage oft hemmungslos ausgelebten Lust am Riesenprint, überwiegend klein und intim. „Ich glaube kaum, dass die nachfolgenden Stationen so viel zeigen können wie wir“, sagt Ingo Taubhorn, Kurator des Hauses der Photographie, der die Bildauswahl des konzipierenden Kurators Hans-Michael Koetzle aus München gemeinsam mit ihm gehängt hat. Hamburg ist die erste Station der Ausstellung, die im kommenden Jahr über Frankfurt, Berlin und Wien nach München weiterwandert.

An in Grauschattierungen getünchten Wänden reihen sich im Labyrinth der Deichtorhallen überwiegend Schwarz-Weiß-Fotos aus 100 Jahren auf. Damit den Betrachter die Bilderflut nicht erschlägt, haben die Kuratoren ihr Augenmerk auf Blickachsen gerichtet, die für Ruhe wie für Abschweifung sorgen, und sie haben kleine Bild-Inseln geschaffen, die thematisch begründet sind oder Beispiele aus dem Werk einzelner Fotografen bündeln.

Ein in Ochsenblutrot gehaltenes Kabinett zeigt in Glaskästen Devotionalien aus dem Hause Leica: einen in den eigenen Werkstätten hergestellten (funktionsuntüchtigen) Nachbau der Ur-Leica, das Original blieb offenbar nicht erhalten, all ihre Nachfolgemodelle, antike Filmrollen, Negativstreifen. Ein Bild aus dem Jahr 1925 zeigt Pressefotografen bei einer Arbeitsniederlegung; vor ihnen liegen klobige Glasplatten-Apparate, von denen man sich heute kaum mehr vorstellen kann, dass sich damit im Alltag fotografieren ließ. Tatsächlich verdankt die Kamera aus dem Hause Leitz ihre rasch wachsende Popularität der Mobilität und Schnelligkeit, die sie ihrem Benutzer erlaubte. Man musste keine zu belichtenden Platten mehr wechseln, denn im Bauch der Kamera lief eine ganze Filmrolle mit, die wiederholtes Auslösen ermöglichte. Das Objektiv verschwand im Apparat und der Apparat in der Manteltasche. Und der Schlitzverschluss machte nahezu kein Geräusch. Mit der kleinen, handlichen Kamera ließ sich beobachtend fotografieren, unauffällig und doch immer nah am Objekt.

Kurator Koetzle nennt die erste in Serie gebaute Leica, die 1925 auf den Markt kam, „das Handy des frühen 20. Jahrhunderts“. Tatsächlich erlaubte das Modell erstmals spontanes Fotografieren auch beweglicher Objekte für jedermann.

Was die Ausstellung jenseits aller Markenfixierung ziemlich unwiderstehlich macht, ist die Qualität der Bilder. Und es sind keineswegs nur die Aufnahmen berühmter Meisterfotografen, die den Blick auf sich ziehen. Es gibt kaum je gezeigte Fotos aus der Zeit Spaniens unter Franco und aus Portugal zu sehen, aus Island, Italien oder Japan. Die Leihgaben stammen aus privaten Sammlungen, aus Galerien und von vielen der Fotografen selbst.

Hier wird tatsächlich ein Zeitalter besichtigt, und dabei erweist sich der fremde Blick manchmal als besonders empfindsam für die Eigentümlichkeiten einer Region oder eines Landes. So betrachtet man etwa die Bilder des vor wenigen Tagen verstorbenen Schweizers René Burri aus dem Deutschland der 60er-, 70er-Jahre oder die von Thomas Hoepker aus den USA zur selben Zeit wie eindrückliche Aufnahmen eines Ethnologen, der Studien in der Fremde treibt. Vor einer aus nur acht Bildern bestehenden Reihe von Magnum-Fotos stockt dem Betrachter der Atem. Ganz links hängt eine Aufnahme aus dem KZ Bergen-Belsen unmittelbar nach der Befreiung mit teilweise von Lumpen und zerschlissenen Wolldecken bedeckten Toten. Zwei Bilder weiter sitzt eine sehr britisch aussehende Dame vor malerischem Londoner Nebel in einem Automobil, daneben hängt eine Straßenszene aus dem China der 60er-Jahre. So ist die Welt, ein Kaleidoskop aus Katastrophen und Kuriositäten. Hier schnurrt sie auf engsten Raum zusammen.

Augen auf! 100 Jahre Leica Fotografie, bis 11.1.2015, Deichtorhallen, Deichtorstr. 1–2, geöffnet Di–So 1.00–18.00, jeden ersten Do im Monat 11.00–21.00, Zur Ausstellung erscheint ein Buch mit 1200 Abb., 576 S., im Kehrer Verlag, 98 Euro