Der kanadische Regisseur Xavier Dolan über sein herausragendes, beim Filmfest Hamburg laufendes Filmdrama „Mommy“

Hamburg. Das Wunderkind sitzt in einer abgedunkelten Bibliothek des Hotels Grand Elysée. Der kanadische Schauspieler, Autor und Regisseur Xavier Dolan ist erst 25 Jahre alt und hat bereits fünf Spielfilme gedreht, alle wurden mit Preisen überhäuft. Sein aktueller Film „Mommy“ über eine verwitwete Mutter und ihren ADHS-kranken, zu Aggressivität neigenden Sohn, erhielt den Preis der Jury bei den Internationalen Filmfestspielen von Cannes und läuft heute um 21.15 Uhr im Cinemaxx 8 beim Filmfest Hamburg. Die Figur des Steve habe viel von ihm selbst, sagt Dolan bei seinem ersten Hamburgbesuch – mit dieser Mischung aus Wildheit und Verletzlichkeit. Auch er habe Konflikte mit den Fäusten geregelt.

Hamburger Abendblatt: Sie thematisieren zum zweiten Mal eine komplizierte Mutter-Sohn-Beziehung, warum?
Xavier Dolan: Die Mutter inspiriert mich. Schon immer. Es ist die wichtigste Beziehung im Leben eines Menschen. Die Mutterfiguren in meinen Filmen sind fiktiv, ich entwerfe sie aus Anteilen meiner Mutter, den Müttern meiner Freunde, meiner Großmutter, Menschen, die ich beobachte.

„Mommy“ ist ein emotional intensiver Film mit Diskussionen und Aggressionsausbrüchen. Braucht es die Gewalt?
Dolan: Für mich ist Gewalt notwendig, um meine Geschichten zu erzählen. Die Figuren definieren sich über Gewalt auch in der Liebe, um sich zu befreien. Mein Vater ist Ägypter, meine Mutter Irin, auch in mir tobt ein Kampf. Ich suche meinen Ort im Leben. Und auch meine Figuren schlagen sich, um zu existieren.

In „Mommy“ ist erstmals Homosexualität nicht das Thema des Films.
Dolan: Das war nie das Thema. In „Les amours humaines“ geht es um zwei Freunde, die sich in die gleiche Person verlieben. „Laurence Anyways“ ist nicht die Geschichte eines Transsexuellen, sondern einer Frau im Körper eines Mannes, die ihre Frau bittet, ihr auf einem Weg zu folgen. Es geht um zwei Menschen, die sich lieben. Die Liebe ist häufig unmöglich. „A la ferme“ handelt von einem jungen Mann, der die Familie seines toten Freundes belügt. Weder die Filme noch die Charaktere sind durch Homosexualität definiert. Das ist eine Eigenschaft, wie schwarz oder jüdisch zu sein.

„Mommy“ erzählt eine ödipale Beziehung zwischen Mutter und Sohn. Was interessiert Sie daran?
Dolan: Das ist psychologisch komplex. Ich mag reiche Figuren, die moralische Dilemmas verhandeln. Diese beiden lieben sich mehr als alles, aber die Gesellschaft gibt ihnen durch Steves Krankheit nicht wirklich eine Chance.

Wie arbeitet es sich, wenn die ganze Welt einen als Film-Wunderkind betrachtet?
Dolan: Mein Leben hat sich komplett verändert. Es ist schwierig zu wissen, wer einen wirklich liebt und warum. Vor allem für einen großen Romantiker wie mich. In „Mommy“ steckt viel reale Gewalt, aber auch Gefühl und Humor. Es gibt immer beide Seiten. Ganz tief drin steckt eine absolute Romantik, in allen Zellen des Films, in der Zeit, in der Geschichte. Das ist die Seele des Films.

Hat die Liebe zwischen Mutter und Sohn und die Freundschaft mit der Nachbarin überhaupt eine Chance?
Dolan: Mehrere. Die Liebe, die Freundschaft siegen im Großteil des Films, aber das Leben holt die Figuren ein. Eine Mutter, die die Krankheit ihres Sohnes realisiert, kann sich schlagen, anbrüllen lassen, versuchen, ihn vor den Angriffen anderer zu verteidigen, aber wenn sie das nicht mehr kann, steht sie vor einem größeren Problem als der Liebe. Wenn man wahnsinnig liebt, tut man alles um die Person zu retten. Ich täte das auch.