Karin Henkels Inszenierung von Ibsens „John Gabriel Borkman“ brilliert am Schauspielhaus

Hamburg. Was Regisseurin Karin Henkel mit Ibsens „John Gabriel Borkman“ macht, ist phänomenal. Aus dem Stück über einen bankrotten, vorbestraften, selbstherrlichen Bankdirektor, der einst Ella geliebt, sie aber aus Gründen des Machterhalts seinem Nebenbuhler abgetreten und ihre Zwillingsschwester Gunhild geheiratet hat, erschafft Henkel einen unheilschwangeren Albtraum, fast ein bisschen Kafka. Lebenslüge und verfehlte Liebe, der Kampf um Macht, die Kraft der Illusion, die Ménage-à-trois – all dies ist hier zwar auch noch zu sehen, aber nicht naturalistisch. Es bildet die Folie, vor der das Mystische, die Fesseln der Vergangenheit, die Traumwelt der Zukunft Gestalt annehmen. Der Wahn, dass sich die Wirklichkeit den Wünschen unterordnen soll, ist bis zur Groteske gesteigert.

Wenn hier Schritte erklingen, erschüttert Donnergrollen das ganze Theater. Und aus Gesang werden sphärische Zauberklänge, die in die Unterwelt locken, die Schattenseite des Lebens, das Naturreich. Dennoch lebt der zweistündige Abend nicht von Geisterhaftem, sondern von intensivstem, fast schmerzendem Schauspiel und großartiger Rollengestaltung, von einer lebendigen, nie langweiligen Neuinterpretation. Ganz zeitgemäß führt er uns vor, wie die Alten an den Jungen herumzerren, indem sie ihnen ihre eigenen Träume aufdrängen wollen. Und wie die Jungen frei und anders leben wollen und doch nur die Verhaltensmuster der Alten marionettenhaft wiederholen.

In Henkels Inszenierung, die jetzt am Schauspielhaus Premiere hatte, brillieren nicht nur zwei herausragende Darstellerinnen, die im schwesterlichen Clinch ebenso viel Hass und Hochmut wie Fantasie und Komik erzeugen, inmitten eines großartigen Ensembles. Sie präsentiert auch das Gefängnis, das durch untätige Illusionen ebenso entsteht wie durch Familienbande. Dafür sorgt schon die Bühne (Katrin Nottrodt), ein betonartiger Bunker, in den kaum Licht fällt. Hohe Stufen führen ganz weit hinten zu einer Art Bahre, auf der Borkman wie ein Menschenopfer liegt. Vielleicht war dieses Haus mal herrschaftlich, aber inzwischen sieht es aus wie ein verlassener Tunnel, in dem nur noch Überreste herumliegen.

Acht Jahre haben sich die Schwestern Ella und Gunhild nicht gesehen, als Ella zurückkehrt und um Erhart kämpfen will, Gunhilds Sohn, den sie als Ersatzmutter jahrelang aufzog. Doch Gunhild hat mit Erhart anderes vor. Er soll Großes leisten, ihren Namen wieder reinwaschen. Der Vater hat fünf Jahre im Gefängnis gesessen. Ella, die todkrank ist, möchte dagegen, dass Erhart ihr in ihren letzten Monaten die Einsamkeit vertreibt. Wenn Lina Beckmann als Ella auf schwankenden Füßen leidend hereintritt, geht das Gezanke mit ihrer Schwester bereits los. Scheinbar betreiben beide das seit ihrer Kindheit. Julia Wieningers Gunhild greift dann mal zur Axt : „Du willst Erhart doch nur benutzen, um dich an mir zu rächen.“ Ella gurgelt, röchelt, spielt die Kranke, nur um gleich wieder auszuholen: „Wem gehört denn das Ganze hier? Mir.“ Denn als Einzige blieb sie vom Bankrott verschont. Dann sitzt man wieder beim fiktiven Tee oder setzt seine täuschend echt gealterte Maske auf.

Erhart, so wie ihn Jan-Peter Kampwirth spielt, ist nun wirklich kein kraftvolles Mannsbild, dem man seine Zukunft anvertrauen möchte. Die Schwestern zerren den Zwanzigjährigen in eine Wanne, entkleiden ihn, übergießen ihn scheinbar mit Wasser, seifen ihn ab wie ein Baby. Als sie ihm in einer späteren Szene den Pullover ausziehen wollen und jede an einem Ärmel zieht, der lang und länger wird, hängt Erhart am Ende wie gekreuzigt da. Zwischen Verpäppelung und Vergötterung sehen sie ihn als Erlöser.

Borkman ist bei Josef Ostendorf ein verbitterter Mann, der schwer an seiner Last trägt. Er glaubt daran, dass man ihm wieder die Leitung einer Bank antragen wird. Acht Jahre sitzt er schon in seinem selbst gewählten Verließ. Mal spielt er Luftgitarre, was die Schwestern mit „das Ungeheuer jault wieder“ kommentieren, mal schmeißt er sich – er läuft fast nur in Nachtwäsche herum – in seinen schwarzen Anzug, um den einzig verbliebenen Freund Foldal (Matthias Bundschuh) zu empfangen. Auch er ein Versager mit Träumen. Er hält sich für einen Dichter. Frida, Foldals 15-jährige Tochter (Gala Winter), macht mit Borkman Musik, aber als sie nicht so will wie er, stürzt er sich auf sie, zerreißt ihre Strumpfhose und brüllt ihr „Nutte“ hinterher. Ein Monster.

Und doch wurde auch er mal geliebt. Gewiss von Ella. Die grandioseste Szene des Abends gestaltet Lina Beckmann, als Ella Borkman nach Jahren wiedersieht. „Ich bin’s, deine Ella“, klimpert sie dem Griesgram entgegen, der gar nicht auf sie reagiert: Beckmann wirft die Beine hoch und dreht sich, sie legt sich mit durchgedrücktem Rücken auf den Bauch und schmeißt ihre Haare herum, sie probiert alle jemals erdachten Hollywood-Verführungsposen aus. Minutenlang. Bis sie, wie auf einer Showtreppe, unten bei Borkman angekommen ist. Doch der ist so verpanzert, dass ihm alles egal zu sein scheint.

Ganz am Ende hat sich die Ménage-à-trois um eine Generation verschoben. Erhart zieht mit der Nachbarin Frau Wilton (Kate Strong) ab, einer modernen Engländerin. Sie ist 17 Jahre älter als Erhart. Na und! Deshalb nimmt sie Frida gleich auch noch mit. Die Schwestern wuseln weiter. Borkman zieht sich zurück und stirbt. Erst jetzt finden die Schwestern zusammen, halten sich an den Händen und stürzen die Treppe herunter nach vorne an die Rampe. Das Publikum applaudiert begeistert. Doch schon geht der Streit von Neuem los, „das ist mein Applaus“, keift die eine, „meiner“, die andere. Die Zuschauer spenden lange Beifall. Für alle.

Nächste Vorstellungen: 26.9. und 2.10., Beginn jeweils 20 Uhr