Helmut Schmidt ist 95, Siegfried Lenz 88 – beide Hamburger verbindet eine lange Freundschaft. Jetzt erscheint ein Buch über die einzigartige Verbindung von Macht und Geist

Die Freundschaft von Helmut Schmidt und Siegfried Lenz währt seit mehr als 50 Jahren. Wann sie begann, wissen die beiden berühmten Männer nicht mehr genau. Vielleicht war es 1962, als der Hamburger Innensenator Schmidt den in Hamburg lebenden Schriftsteller Lenz in Bramstedt im Krankenhaus besuchte. Die beiden kannten sich aus ihrer Arbeit im Vorstand der Hamburger Gesellschaft für christlich-jüdische Zusammenarbeit. Es könnte auch sein, dass sich Lenz und Schmidt bei einem Nachmittagstee anfreundeten, zu dem der Politiker den Intellektuellen eingeladen hatte. Man sprach dort über Lenz’ Theaterstück „Zeit der Schuldlosen“, das im September 1961 am Deutschen Schauspielhaus Premiere hatte. Das Teegespräch fand bei Schmidt zu Hause statt. Das ist etwas, was Lenz noch genau erinnert. Genauso, wie Schmidt noch weiß, dass er Lenz’ Debütroman „Es waren Habichte in der Luft“ und die Erzählung „Das Feuerschiff“ gelesen hatte – als viel beschäftigter Politiker, der kaum noch zum Lesen kam.

Schmidt ist 95, Lenz 88 Jahre alt. Sie sind zwei wirklich alte Herren, zwei Repräsentanten der Zeitgeschichte; der eine gehört zu den wichtigsten deutschen Politikern der Nachkriegszeit, der andere zu den wichtigsten deutschsprachigen Autoren. An dem Beispiel ihrer langen Bekanntschaft lässt sich trefflich das Wesen der Freundschaft beschreiben, es lässt sich über das Verhältnis zwischen Politikern und Intellektuellen räsonieren und über das zwischen Macht und Kunst. Schmidt und Lenz haben sich über diese Fragen immer wieder im persönlichen Gespräch ausgetauscht, in Briefen. Sie haben Laudationes aufeinander gehalten, einander Glückwünsche in Schriftform übermittelt, Artikel verfasst. In seiner jetzt erscheinenden und fabelhaften Studie „Schmidt–Lenz. Geschichte einer Freundschaft“ beschäftigt sich der Germanist und Journalist Jörg Magenau mit der überwiegend privat gebliebenen freundschaftlichen Beziehung zwischen den beiden großen Hamburgern.

Er wertete auch bislang unveröffentlichtes Archivmaterial aus und traf sich in der Elbschlossresidenz, in der Lenz mittlerweile wohnt, zweimal mit beiden Männern zum ausführlichen Gespräch. In Magenaus Schilderungen der persönlichen Berührungspunkte, die von Lenz’ Wahlkampfhilfen für die SPD seit Ende der 60er-Jahre über Begegnungen bei offiziellen Anlässen in Hamburg und Bonn bis hin zu Besuchen der Schmidts im dänischen Ferienhaus der Familie Lenz reichten, mischen sich immer wieder Dialog-Passagen aus den Hausbesuchen, in denen Lenz und Schmidt über die Eigenschaften der Preußen sprachen, über den Krieg, die Politik, die Literatur, ihre Freundschaft und die Duzerei der „Sozis“, wie Schmidt seine Partei beharrlich immer wieder nennt.

Wie erstaunlich, dass Schmidt („Wie geht es Ihnen, Siggi?“) und Lenz nie zum Du übergingen, obwohl sich doch zum Beispiel Lenz und Loki Schmidt seit Mitte der 1980er-Jahre wie selbstverständlich duzten. Der Teil des Gesprächs ist so köstlich wie bezeichnend, er sei – wie in Magenaus Buch – an dieser Stelle zitiert Schmidt: „Wir sind beim Sie geblieben. Aus Versehen sagen wir manchmal auch Du, aber das stimmt nicht. Warum hätten wir es ändern wollen?“

Lenz: „Nun war ich sehr vertraut mit seiner Lebensleistung. Und das Du ist eine Offerte an Menschen, ich möchte jetzt keinen beleidigen, die auf eine große Nähe verweist. Aber in diesem Falle war für mich gegeben der Respekt, die Hochachtung. Entschuldige, Helmut.“ Schmidt: „Ich muss sagen, bei den Sozialdemokraten ist es üblich, dass die sich gegenseitig duzen.“ Lenz: „Ich weiß es.“ Schmidt: „Und ich finde das zum Kotzen. Ich finde das furchtbar.“ Lenz: „Ja.“ Schmidt: „Der Vorname und die Anrede per Sie ist eine Hamburger Eigenart. Die finden Sie so auch nicht wieder in Kiel, auch in Hannover nicht, die stammt auch nicht aus Ostpreußen.“

Schmidt, der Kunstkenner und Barlach-Fan, war kein großer Leser von Romanen, aber mit dem Werk seines Freundes war er durchaus vertraut. Trotzdem erscheint es, nimmt man die Äußerungen von Siegfried Lenz über die Jahre als Maßstab, höchst charakteristisch, wie behutsam Lenz seine Rolle als Intellektueller mit Zugang zu einem ranghohen Politiker stets interpretierte. Hinter der Bedeutung von Schmidt, dem Senator und Kanzler, durfte und musste die Sphäre der Literatur stets zurücktreten. Das Spannungsverhältnis zwischen denen, die lenken, und denen, die denken, ist immer schon auch ein zänkisches gewesen. Lenz aber nahm sich stets zurück und fühlte sich in die Figur des Politikers hinein.

Im Hinblick auf die Belesenheit von Politikern wollte er nicht gar zu viel erwarten, wie ein nicht anders als putzig zu nennendes Lob von Schmidts Lektürefähigkeiten beweist. Schmidt schätzte das Lenz-Büchlein „Kleines Strandgut“ und zitierte daraus in seiner Rede an Lenz’ 75. Geburtstag zwei Sätze, die man als die zentralen Formulierungen betrachten könnte. Knapp anderthalb Jahrzehnte später zeigt Lenz sich immer noch gerührt davon, dass sich der Kanzler a.D. auf seinen Text bezog: „Das war ein Schlüsselzitat, das er prompt gefunden hat.“

„Ich weiß, Literatur kann Politik nicht ersetzen, doch ich habe erfahren, dass sie durchaus Politik begleiten, ja sogar begünstigen kann“, sagte Lenz einmal. Lenz hatte 1965 im „Spiegel“ über Schmidt ein Porträt geschrieben, als die spätere Kanzlerschaft des Hamburger Innensenators noch nicht einmal schemenhaft am Horizont zu sehen war.

Gemeinsam mit Günter Grass machte Lenz Wahlkampf für Willy Brandt, wobei Grass stets der Dampfmacher war und Lenz der Abwägende, der Nachdenkliche. Von Grass’ berüchtigtem Sendungsbewusstsein wusste Brandt sehr gut, Grass sah sich als Impulsgeber, der Brandt in Briefen immer wieder auf Handlungsmaxime und Ziele hinwies.

Lenz war wesentlich zurückhaltender, und er kannte die Grenzen von Kunst und Literatur. Er wusste um die Bedeutung des Wortes Realpolitik. In einem Aufsatz schrieb er mal sehr klug: „Politik muss zu eindeutigen Resultaten finden, Literatur darf mehrdeutig bleiben. Politik wendet sich an die vielen, Literatur immer an den Einzelnen im intimen Gespräch.“

Man wäre jenseits der schriftlichen Korrespondenz, die höflich, sachlich, aber auch herzlich war, und der öffentlichen Verlautbarungen gerne hin und wieder dabei gewesen, wenn Schmidt und Lenz über große Politik sprachen. Sie wussten beide um die historische Gegnerschaft von Geist und Macht, lösten diesen Gegensatz jedoch im persönlichen Miteinander beinah auf.

Der Politiker ist Praktiker, der Schriftsteller Idealist – es kommt eben darauf an, inwiefern man diese unterschiedlichen Temperaturen im direkten Umgang reflektiert. Dennoch wusste Lenz um die Funktion seines Berufsstandes: „Als Schriftsteller glaube ich, dass von unserer Zustimmung weniger abhängt als von unserem Widerspruch.“

Für Schmidt besonders, aber auch für Lenz war der Deutsche Herbst im Jahr 1977 ein prägendes Erlebnis. Als der Krisenstab wegen der Vorgänge in Mogadischu und der Schleyer-Entführung zusammenkam, sagt der Bundeskanzler Helmut Schmidt das lange vorher terminierte Gespräch mit Max Frisch, Heinrich Böll, Siegfried Unseld und Siegfried Lenz nicht etwa ab. Er diskutierte mit den Intellektuellen nur zwei Tage, bevor die Lage mit der Erstürmung der „Landshut“ eskalierte, den schwierigen Erpressungsversuch durch die RAF – und erntete von den durchweg als links geltenden Gästen vor allem viel Verständnis. Keiner wollte mit ihm, dem Verantwortlichen, in dieser Situation die Rollen tauschen.

Lenz bewunderte Schmidt, und Schmidt bewunderte Lenz; Schmidt wusste, welche „wunderbaren Möglichkeiten ihm verschlossen“ bleiben, weil er Politiker und kein Schriftsteller war. Ihre Freundschaft spiegelte sich in der Freundschaft der Ehefrauen, Lilo Lenz, die 2006 starb, und Loki Schmidt, die 2010 starb. Beide malten, trafen sich zum Kaffee und waren einander in aufrichtiger Zuneigung verbunden.

Es war Loki Schmidt, die in der Hauptsache die Korrespondenz mit Lenz übernahm. Ihre Briefe waren, wie die im Band abgedruckten Faksimiles zeigen, herzlicher als diejenigen ihres Mannes. Wie überhaupt der Umgang der Männer bis heute förmlich geblieben ist, auch ein wenig hölzern.

Die Distanziertheit wirkt in der Beharrlichkeit des Alters aber auch rührend. Hamburger waren sie beide wie selbstverständlich, der aus Masuren stammende und nach dem Krieg gekommene Lenz – und der in Barmbek aufgewachsene Schmidt. Ob sie sich oft über die Stadt, in der sie zu Hause waren, unterhielten?

Anzunehmen, dass es meist wichtigere Themen zwischen ihnen gibt als die Stadt, die sie beide längst zu Ehrenbürgern gemacht hat. Sie treffen sich ohnehin nicht mehr oft, weil das Alter gegenseitige Besuche beschwerlich macht. Aber geschrieben und gesprochen über Hamburg haben sowohl Schmidt als auch Lenz mehr als einmal. In Magenaus lesenswertem Buch ist auch dieses „Hamburg“-Kapitel interessant, in dem er die Verlautbarungen der beiden Autoritäten referiert. Also auch Schmidts berühmten, im Jahr 1962 in der „Welt“ anonym erschienenen Artikel über Hamburg, in dem er schwärmte, mahnte, pries, und der Sätze wie die folgenden beinhaltete: „Ich liebe sie mit Wehmut, denn sie schläft, meine Schöne, sie träumt; sie ist eitel mit ihren Tugenden, ohne sie recht zu nutzen; sie genießt den heutigen Tag und scheint den morgigen für selbstverständlich zu halten – sie sonnt sich ein wenig zu selbstgefällig und lässt den lieben Gott einen guten Mann sein.“

Lenz wollte sich, anders als Schmidt, der seine Stadt anhand von typischen Merkmalen (Wetter, Mentalität, Konkurrenz mit Bremen) beschreiben konnte, auf das Loben Hamburgs nie ganz so frei einlassen. In seinem Erzählband „Leute von Hamburg“ fand er indes eine Charakterisierung des Hamburgischen, die sehr ausgesucht ist und in jenem die „Kunst“ sieht, „die Welt am Lieferanteneingang zu empfangen und ihr das Gefühl zu geben, dies sei die größte Auszeichnung, die man hier zu vergeben hat“.

Magenaus Buch ist der Haupteingang zum Verständnis einer einzigartigen Freundschaft, die ein bisschen von Hamburg und viel über Helmut Schmidt, Siegfried Lenz, vom Typus des Staatsmannes und dem des Schriftstellers erzählt.

Jörg Magenau: Schmidt-Lenz. Geschichte einer Freundschaft, Hoffmann und Campe, 267 Seiten, 22 Euro