Das Reeperbahn Festival zieht in diesen Tagen Zehntausende in seinen Bann. Beobachtungen in einer lauen Nacht auf dem pulsierenden Kiez

Hamburg. Vor einem jeden Konzert, da liegen die Kabel. Die Instrumente brauchen ihren Strom, um die Fans mit Energie zu versorgen. Das rhythmische Entrollen, das behände Verlegen, das schnelle Einstöpseln. All diese Handgriffe sind Rock-’n’-Roll-Ritual. Und sie entfalten ihre eigene Poesie. Gerade in der kurzen Zeit, die bleibt.

Beim Reeperbahn Festival sind die Umbaupausen kurz. Mehr als 300 Konzerte wollen durchgetaktet sein. Die Fans warten auf den nächsten Auftritt, auf eine weitere Chance, eine Band zu entdecken. Vielleicht entsteht eine musikalische Liebe fürs Leben. Oder aber ein Flirt, um den Augenblick zu feiern.

Der Verkehr rauscht auf der Reeperbahn vorbei. Die Clubs und Theater auf dem Kiez lassen ihre Schriftzüge in der anbrechenden Nacht leuchten. Hunger und Hoffnung treiben die Herzen hinaus. Und die Fans und Flaneure, die noch bis in die Morgenstunden des Sonntags auf St. Pauli unterwegs sein werden, sie landen dann zum Beispiel bei der kanadischen Band July Talk. Ein Duo, das zunächst mit Technikern über die kleine Bühne des Reeperbus klettert, um dort ein wohl sortiertes Muster aus Kabeln zu hinterlassen. Ein Chaos mit Sinn, das den Akustik-Sound von Peter Dreimanis und Leah Fay letztlich auf den Spielbudenplatz hinausträgt. Er mit einer Stimme, als hätten Archäologen sie aus tiefsten Tiefen ausgegraben. Sie mit einem hellen Gesang, der direkt aus dem Pop-Himmel gesandt zu sein scheint. Neben der Bühne vollführt ein rauchender Alter, der auf einem Holzklotz steht, einen zuckenden Tanz. Mit goldener Pappkrone und rotem Umhang gibt der Kauz den König von Kiez. Gehört er zum offiziellen Festival-Programm? Egal. Denn die Inspiration dieser vier Tage und Nächte liegt auch in dem, was unvorhergesehen ist. Was gleichzeitig passiert. Ein Musikerlebnis sammelt und stapelt sich auf das nächste. Jeder Auftritt wirft die Referenzmaschine an, in der sich die Musiker – ob sie nun wollen oder nicht – auf vorangegangene Werke des Pop beziehen.

Ganz bewusst eine Verbindung stellt das Ensemble Resonanz her, das beim allerersten Elbphilharmonie-Abend des Festivals auftritt. Einerseits Wahrzeichen-Werbung. Andererseits ein guter Akzent für das Programm, der vom popaffinen Publikum konzentriert lauschend honoriert wird. Ein Streichquartett des unweit größeren Ensembles spielt da Werke von Bryce Dessner, vor allem bekannt als Gitarrist der New Yorker Rock-Band The National. Akzentuiert spinnen die vier feine Fäden. Bis neue Verbindungen entstehen.

Länger in den Köpfen kreisen werden auch all die Gespräche und Sätze, die die Nacht heranweht. Etwa dieser: „Und denkt bitte daran: Nach jedem Saunagang kalt abduschen und die Ruhephasen einhalten!“ Ausgesprochen vom Sänger der Berliner Band Oracles, die im Grünen Jäger eine Art Indie-Rock-Aufguss veranstaltet.

Ein Garant für gute Sätze ist stets auch Jens Friebe. „Nackte Angst, zieh dich an, wir gehen aus“ heißt sein neues Album, das der Berliner Pop-Dandy mit Band im Knust präsentiert. Vor dem Konzert jedoch: die Kabel. Ein Zerren aus den Boxen, das da nicht hingehört. Verspätet beginnt er, aber nicht zu spät.

Pünktlich zum Festival hat das Molotow seine neue Heimat am Nobistor eröffnet

Friebe singt vom „Weltuntergang“, vor dem seine Songs womöglich retten können. Musik überhaupt. „Sei einfach nicht du selbst“, empfiehlt er in einem anderen Lied. Ein angebrachter Tipp. Denn im Laufe dieser Nacht, in der die Menschen zwischen 70 Locations hin und her stromern, zwischen Hasenschaukel und Clubheim St. Pauli, zwischen Elbe und Schanze, da werden irgendwann alle zu den wundervollsten Wesen der Welt. Himmelhoch glamourös zu Tode müde. Und jeder wird nach seiner Fasson selig. Beim Geheimgig des Mitklatsch-Mädchenschwarms Clueso im Gruenspan. Bei den hymnischen Popklängen von Sting-Tochter Eliot Sumner im Schmidts Tivoli. Oder bei dem sehr tanzbaren Indie-Rock von Skip The Use aus dem französischen Lille im Rock Cafe. Nicht zu vergessen St. Pauli an sich, dieses herbe Herz. Neben dem Pide-Laden in der Talstraße, der diversen Festival-Gängern als Stärkungsstätte dient, tönt Matthias Reim aus den Boxen: „Verdammt, ich lieb dich!“ Wieder so ein Satz, der im Hirn hängen bleibt. Mit dem Vers auf Rotation gilt es, weiter Meter und Kilometer zu machen. Zwischen den Orten.

Flugs das Gefährt in der Fahrrad-Garderobe an der Ecke Hein-Hoyer-Straße abholen und über die Weite des Heiligengeistfelds hin zum Terrace Hill, dem nächsten heißen Laden. Hoch oben im Feldstraßenbunker angelangt, lässt sich das Gemüt kühlen beim Anblick der Projektionen, zu denen Public Service Broadcasting auftritt. Alte Filme von Eislangstreckenläufern flackern da über die Leinwand, vor der das Londoner Duo ihren mit Radiosequenzen durchsetzten Avantgarde-Rock anstimmt. Der Schlagzeuger mit Schlips, der Gitarrist und Laptop-Tüftler mit Fliege am Hals. Ein Spiel mit den Epochen. Retro-Schick im Hier und Jetzt.

Angekommen in der Gegenwart ist auch das Molotow, das pünktlich zum Reeperbahn Festival seine neue Heimat in der ehemaligen China-Lounge am Nobistor eröffnet hat. Hinten ein Biergarten. Der Rest ein Irrgarten. Zumindest zu Beginn, als es all die Gänge und Treppen erst noch zu erforschen gilt. Zur Straße hin der Club mit Bühne. Die Stufen hinauf die Bar. Alles leuchtet sehr rot, sehr warm. Nach Mitternacht legt der DJ The Who auf. „Can’t Explain“. Schön. Denn man muss ja auch nicht immer alles erklären können.