Barbara Nüsse hat am heutigen Freitag mit „Die Schutzbefohlenen“ im Thalia Premiere

Hamburg. Es gibt viele tolle Barbara-Nüsse-Szenen. Ob sie in „Penelope“ brilliert, einer reflektierenden Rückschau auf jene Erfolgsproduktion, in der sie mit Molly Bloom die Rolle ihres Lebens spielte. Oder in „Der nackte Wahnsinn“ mit tierischem Ernst eine versoffene Schauspielerin gibt, die bei ihrem Einsatz als Dieb ständig zur Unzeit durchs Fenster fällt. Wie anrührend verletzlich sie dann wieder als Arkadina in „Die Möwe“ um die Bewahrung des Alten ringt.

Dann sind da jene Auftritte etwa als bärbeißiger Obergruppenführer Prall in „Jeder stirbt für sich allein“ oder als Oberst in „Draußen vor der Tür“, in denen die Nüsse – ohne ihre klare Stimme zu erheben – mannhafter, schneidender, machtvoller wirkt als jeder bemühte Vorzeigemacho.

Mit ihren 71 Jahren ist sie die Grande Dame des Theaters und noch immer zeigt sie auf der Bühne eine Qualität, die ihresgleichen sucht. Gleich zwei Premieren hat sie dieser Tage zu bewältigen, „Penelope“ läuft als Lesung mit Spiel und historischen Filmausschnitten in der Gaußstraße, am 12. September ist Premiere der Elfriede-Jelinek-Aufführung „Die Schutzbefohlenen“ in der Regie von Nicolas Stemann. Das Wiedersehen mit „Penelope“ berührt die gerne ein wenig strenge Barbara Nüsse beim Gespräch in der Weltbühne gerade sehr. „Es gibt immer einen Grund, sich mit diesen wunderbaren Texten auseinanderzusetzen“, sagt sie. Vor 17 Jahren hatte sie die Rolle zum letzten Mal gegeben. Eine Anfrage der Ruhrfestspiele ließ sie den Stoff wieder hervorholen. „Ich habe festgestellt, dass ich den Text immer noch kann.“

In der aktuellen Einrichtung hält die Nüsse Rückschau auf eine Filmaufnahme, bei der sie 27 Jahre jünger war, und gleichzeitig auf ihr eigenes Schauspielerdasein. „Da hat man eine andere Haltung zum Leben. Aber das Verhältnis zum Text ist das gleiche. Die Sprache ist eigentlich die Hauptperson. Das Herz jedes Autors schlägt anders, hat ein anderes Tempo“, sagt die Nüsse. „Ich liebe komplizierte, große Texte. Damit kann man viel besser arbeiten als mit einem schlechten Text.“

Davon gab es einige an den grandiose Stationen, die sie als Künstlerin erlebt hat. Bis heute unvergessliche Jahre am Schauspielhaus unter Frank Baumbauer, dem sie als Gast an die Münchner Kammerspiele folgte. Hier erarbeitete sie mit Alvis Hermanis das berührende „Späte Nachbarn“, eine Produktion, die auch bei den Lessingtagen gastierte.

Zwischen dem fast realitätssüchtigen, aber dann doch gar nicht altmodischen Hermanis-Stil und freien, performativ-musikalischen Formaten Nicolas Stemanns wechselt die Weltenwanderin Barbara Nüsse mühelos. Eine Krise der Kunstform kann sie nirgends entdecken. „Das Theater bewegt sich ständig. Das spüre ich.“

In „Die Schutzbefohlenen“ analysiert die Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek die tragischen Geschehnisse um die Fluchtbewegungen aus Afrika und die Abschottung Europas, wie sie in Hamburg durch die Lampedusa-Flüchtlinge zu trauriger Berühmtheit gelangt sind, anhand von Motiven aus Aischylos’ Tragödie „Die Schutzflehenden“. In Stemanns Inszenierung, die beim Festival Theater der Welt in Mannheim herauskam, sprechen Schauspieler und Flüchtlinge die Textflächen mal synchron im Chor, mal fallen sie sich ins Wort. Weiße und farbige Darsteller mischen sich. Und am Ende übernehmen reale Flüchtlinge mehr und mehr die Bühne, die Schauspieler verstummen.

Der Jelinek-Experte Stemann sucht immer bis zum letzten Moment. Das stellt sein Ensemble vor große Herausforderungen. „Bei den immensen Textkonvoluten Jelineks kann man nur eine Auswahl sprechen“, sagt Nüsse. „Wenn sich hier häufig zwei, drei Leute einen Text chorisch teilen, muss man das bimsen, bimsen, bimsen.“ Nüsse schätzt die Autorin, kennt sie persönlich und hat auch schon vielen ihrer Texten auf Lesungen ihre klare Stimme verliehen. „Über Dinge, die sie aufregen, kann sie nicht aufhören zu reden. Dafür liebe ich sie so“, sagt Nüsse. „Sie beleuchtet ein Thema von allen Seiten in mal sarkastischem, ironischem, tragischem, pathetischem und banalem Ton und versucht sich auf diese Weise dessen zu entledigen, sonst erstickt sie daran.“ Nüsse liebt Jelineks Unerbittlichkeit, das Über-die-Grenzen-Gehen, aber sie hat die öffentlichkeitsscheue Autorin auch als zartfühlende, liebenswerte Person kennengelernt.

In ihrer politischen Dringlichkeit folgt Nüsse ganz dem moralischen Kunst- und Wirkungsverständnis von Regisseur Stemann. „Das ist eines der wichtigsten Themen, die uns beschäftigen müssen. Der Kolonialismus hat ja nie wirklich aufgehört. Heute werden die Bodenschätze von der Wirtschaft ausgebeutet. Ich habe fast das Gefühl, Europa ist eine kriminelle Vereinigung.“ Das Ensemble erarbeitet den Abend wie üblich gemeinsam mit Stemann während der Proben. Das sei manchmal schon mühselig, sagt Nüsse.

Im Laufe ihres Künstlerlebens hat sie viele wichtige Auszeichnungen eingesammelt. Für ihren am Schauspiel Köln verkörperten „König Lear“ erhielt sie 2013 den Gertrud-Eysoldt-Ring. Eine Männerrolle. Vielleicht beherrscht sie die besonders gut, weil sie als eine von zwei Töchtern eines Unternehmers im Ruhrgebiet aufwuchs und versuchte, ihm den erwünschten Sohn zu ersetzen. Als Kind trug sie Lederhosen und spielte mit der Eisenbahn.

Sie habe um seine Liebe gekämpft, natürlich, so betont sie. Der Vater starb, als sie erst 17 Jahre alt war, Nüsse fiel seelisch in ein tiefes Loch, und als sie daraus nach Monaten wieder herauskam, stand für sie das Ziel, Schauspielerin zu werden, fest. Fortan gab es nichts anderes mehr und so ist es bis heute geblieben. Hosenrollen liegen der Schauspielerin. „Es ist toll, was man da alles noch miterleben und wie man Texte anders erzählen kann, das gab es in meiner Jugend nicht.“

Derzeit fühlt sich Barbara Nüsse ausgesprochen wohl am Theater und in der Stadt. „Es macht wahnsinnig Spaß mit diesem Ensemble zu arbeiten. Ich bin richtig glücklich hier“, sagt sie. Und es huscht so etwas wie ein mildes Lächeln über ihr Gesicht.

„Die Schutzbefohlenen“ Premiere Fr 12.9., 20.00, Thalia Theater, Alstertor, Karten T. 32 81 44 44