Exzellent gespieltes, kluges Gegenwartstheater: „Zorn“ als deutsche Erstaufführung in den Kammerspielen

Hamburg. Zorn ist eine starke Macht. Eine Naturgewalt. Im besten Fall produktiv, manchmal auch zerstörerisch. „Die Energie des Lebens steckt in diesen fünf Sekunden. Zorn ist eine Leidenschaft, und Leidenschaft findet Lösungen. Wenn dir etwas zu schwer ist, willst du es nicht genug“, sagt Alice Harper. Wut ist eine starke Antriebsfeder für die Neurowissenschaftlerin. Weit hat sie es gebracht, demnächst erhält sie für eine Entdeckung einen Preis. Das gutbürgerliche Wohlstandsleben mit ihrem schriftstellernden Mann und dem wohlgeratenen Sohn läuft nach Wunsch. Bis sich gleich auf mehreren Ebenen Explosionen ereignen. Eine davon betrifft Alice selbst.

„Zorn“ der australischen Autorin Joanna Murray-Smith, das Harald Clemen jetzt in den Hamburger Kammerspielen zur deutschsprachigen Erstaufführung brachte, ist in mehrfacher Hinsicht das Stück der Stunde. Alle derzeit brennenden Themen – Religion, Rassismus, Extremismus, Familie, Selbstgerechtigkeit, Werte – verhandelt das von John und Peter von Düffel übersetzte Drama auf geschickt verschränkten Ebenen. Das Private und das Politische werden trennscharf ineinander verzahnt. Und die Schauspieler sind bis in die Nebenrollen ein Glücksfall. Kühl und urban wirkt der von Hans Richter realistisch errichtete Allzweckraum. Mal taugt er zum Wohnzimmer mit Sofalandschaft, mal zur Straßenszene, mal zum Klassenzimmer. Eine Lichtinstallation und Jazzmusik verorten das Geschehen in einer Wohlstandsmetropole.

Jacqueline Macaulay als Alice Harper ist jeder Zoll eine Karrierefrau, kalkuliert, schlau, dabei ein wenig emotionsarm. Emotionen sind eher die Stärke ihres zu netten, vor sich hindichtenden Gatten Patrick, den der elegant-smarte Rufus Beck mit einer Mischung aus Fürsorge und Empathie gibt. Das Paar in den besten Jahren sonnt sich im Erreichten, wähnt sich auf der Seite der Guten, bis plötzlich dieser Lehrer im Wohnzimmer steht und Ungeheuerliches verkündet: Sohn Joe (Jonathan Beck) hat eine Moschee mit Graffiti besprüht. Einfach so. Unglaube weicht Wut bis zur Handgreiflichkeit. Kein harmloser Jungenstreich, sondern ein „Hassverbrechen“. Wie kann das geschehen in einem aufgeklärten Intellektuellen-Haushalt?

Joe, den Beck-Sohn Jonathan als durchaus freundlichen, brav gescheitelten jungen Mann gibt, hat selbst die Farbe besorgt. Und Kumpel Trevor zur Beihilfe angestiftet. Irgendetwas stimmt nicht. Etwas ist faul. Aber was? Revoluzzertum gegen das elterliche Meinungsmonopol? Wie viel Radikalität ist erlaubt, wenn man meint, das Richtige zu tun? Starke Worte fallen. „Wir sind deine Strafe und du bist unsere“, sagt Alice. Hilflosigkeit auch bei der Begegnung mit Trevors aufrechten Arbeiter-Eltern, dem wichtigtuerischen Bob (Ulrich Bähnk) und der ängstlichen Annie (Isabell Fischer). Clemen verrät sie nicht, er nimmt alle Figuren ernst, ohne die dem Stück innewohnende Ironie auszusparen.

„Zorn“ verdeutlicht den verzweifelten Versuch, in einer Welt, in der Werte vermittelt werden, die aber keine verbindliche Gültigkeit mehr besitzen, noch moralische Pfähle einzuschlagen. Die Grenze zwischen Selbstgerechtigkeit und Unrecht zu definieren. Aber was ist zu halten von einer Welt, in der der Lehrer den gefallenen Teenager nur ermahnt, Reue zu simulieren, denn „Image ist alles“? Wo Oberfläche und Erfolg mehr zählen als Mitgefühl? Bei Joe mischen sich Lebensangst und Vorurteile. Die Moschee war letztlich ein Zufallsopfer. „Ich fühle mich der Menschheit nicht verbunden. Es gibt mich. Und meine Freunde. Und wir haben einen sicheren Ort“, sagt Joe.

Der sichere Familienort zerbricht dann nicht aufgrund anderer Glaubensgemeinschaften, sondern als die Journalistin Rebecca (Lena Dörrie) an ein schlimmes Geheimnis aus Alices Vergangenheit rührt. Da war sie selbst jung und zornig und gehörte einer radikalen Studentenorganisation an, die in Gewalt ein legitimes Mittel sah. „Ich wollte in die Luft jagen, wer ich war und etwas anderes werden“, sagt Alice. Da nimmt am Ende dann auch der eher weiche Patrick noch eine Haltung an.

„Zorn“ ist ein spannendes, wortreiches, dabei schnell geschnittenes Konversationsstück. Und es ist intensives, kluges Theater am Puls der Zeit, das keine einfachen Lösungen anbietet. Die Reibung zwischen der glatt inszenierten Oberfläche und den eruptiven Konflikten und Leidenschaften wirkt lange nach. Prädikat unbedingt sehenswert.

„Zorn“ bis 19.10., Hamburger Kammerspiele, Hartungstraße 9-11, Karten T. 413 34 40; www.hamburger-kammerspiele.de